Die Dorfchronik von Mühlingen

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 27. Jul 2015, 00:49

Es war Zeit für die dritte Herausforderung, doch die Piraten wussten nicht so recht, welche Aufgabe sie ihrem Gefangenen stellen sollten. Üblicherweise befanden sich ihre Opfer an diesem Punkt in einem weitaus erbärmlicheren Zustand als der Herr von Bachental. Sie zu einem Tanz mit des Kapitäns Weib zu zwingen, genügte in der Regel, um ihnen vollends den Rest zu geben.
Dieser Bachentaler hingegen… zugegeben, seine Knie waren weich, ihm war kotzspeiübel und die Ungewissheit, wie es weitergehen sollte, machte ihm zu schaffen, dennoch ging es Enki weitaus besser als von den Piraten erhofft. Die ersten Zuschauer verließen bereits gelangweilt die Menge, um sich wieder ihren Aufgaben auf dem Schiff zu widmen.

„Heißt der gute Mann nicht Schweinethaler? Schicken wir ihn doch das Kielschwein füttern!“ plautzte einer der Seeräuber heraus.
„Ja!“ fiel ein anderer ein. „Das arme Vieh hat Hunger!“
Enki zuckte zusammen. Das auf die Worte der beiden Männer folgende schallende Gelächter ließ auf nichts Gutes schließen. Bei dem besagten Tier musste es sich um eine wahre Mördersau handeln, die selbst ihre Halter das Fürchten lehrte.
Fieberhaft suchte der Spielmann in den Gesichtern der Umstehenden nach dem kleinsten Hinweis, der ihm in seiner Lage helfen mochte. Menschen, die sich ihrer Sache sicher waren, verrieten sich manchmal unbeabsichtigterweise…
Hohn. Verachtung. Schadenfreude. Mehr war nicht aus den Mienen heraus zu lesen, und schon gar keine Fütterungshinweise für das Hausschwein einer Piratenbande. Enkis Schultern sackten nach unten. Er würde wohl oder übel selbst herausfinden müssen, worin die Gefährlichkeit eines Kielschweins bestand und was man ihm vorsetzen musste, damit man nicht selbst angeknabbert wurde.

Doch mit einem Mal gewahrte der Gefangene einen weiter hinten stehenden Piraten beinahe unmerklich den Kopf schütteln. Enki starrte genauer hin. Als sein Gegenüber merkte, die Aufmerksamkeit des fremden Edelmannes zu haben, schmunzelte er. Dann formten seine Lippen lautlose Silben.
Was wollte der Mann ihm mitteilen? „Kein Schwein“? „So etwas gibt es nicht“? Und dann irgendetwas mit „Balken“?
Enki verstand nicht einmal ansatzweise, was ihm da vermittelt werden sollte. Doch darum ging es ja genaugenommen auch nicht. Er musste lediglich den Eindruck erwecken, er sei bewandert in der Schweinekunde. Dabei waren die einzigen Schweine, deren Wesen zu verstehen sich Enki rühmen konnte, die Menschen hier an Bord. Seine Erfahrung verriet Enki, dass der Lippenbeweger tatsächlich auf seiner Seite stand, ihm also keine irreführenden Hinweise übermittelt hatte. Damit musste er arbeiten.
„Ihr lügt ja, dass sich die Balken biegen!“ erklärte der Spielmann.
Siehe da, die ersten Piraten zwinkerten bereits verdutzt mit den Augen.
„Die Kielbalken!“ setzte Enki nach.
Irgendetwas schien er gerade richtig gemacht zu haben, denn wie schon bei den ersten beiden Aufgaben blickten die Piraten nun ziemlich enttäuscht drein.
Enki nahm sein Glück vorerst hin, nahm sich aber vor, bei nächster Gelegenheit im Großen Physiologus nachzuschlagen, was es mit Kielschweinen auf sich hatte.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 27. Jul 2015, 22:10

Der Piraten Spiel war beendet und Enki hatte jede einzelne Herausforderung bestanden. Enttäuschung und Unglaube spiegelte sich in den Gesichtern der Seeräuber.
„Wer seid Ihr?“ zischte des Kapitäns Gefährtin, deren Namen Enki nicht kannte. „Und mit welchen Mächten seid Ihr im Bunde?!“
Enki warf sich in Pose und antwortete mit selbstbewusster Stimme: „Ich bin der Nachkomme des Hexenmeisters Hal von Wien. Die menschenfressenden Halloween-Schweine, die er geschaffen hat, hausen in unseren Wäldern. Sie schlagen Wanderer als Beute. Alles, was in den Köpfen dieser Menschen ist, merken sich die Schweine. Wenn wir diese Schweine jagen und überm Spieß braten, dann geht alles Wissen, was sie gesammelt haben, auf uns über. Deswegen kann niemand Geheimnisse vor uns haben und es gibt keine Kunst, von der ein von Bachental nichts verstünde!“
Eine stattliche Anzahl Matrosen wich auf diese Worte hin zurück. Eine kleine Minderheit griff nach herumliegenden Knüppeln, Bootshaken oder auch nur Schlingen, bereit, den Teufelsbündler mit seinen unheiligen Kreaturen zu erschlagen. Wieder andere Piraten lachten unsicher, doch am lautesten lachte Kapitän Fettbart.
„Komm her!“ forderte er den Gefangenen auf. „Na los, nur keine Scheu, komm hier herauf!“
Unsicher folgte Enki der Aufforderung – oder war es nicht eher eine Einladung?

Mehr neugierig als verängstigt erklomm der Gefangene die Stiege hinauf zum Achterdeck.
Dort legte Fettbart seinen Arm um Enki. „Ich weiß jedenfalls, was der hier NICHT ist!“ rief er seinen Mannen zu. „Nämlich ein Edelmann!“
„Öhm… nicht?“ fragte Enki.
„Hahaha! Natürlich nicht! Ein Gauner und Hochstapler bist du! Was du in unserem Spiel gezeigt hast, das lernt man nicht in einer Grafenburg.“ Der Kapitän schüttelte Enki durch – brüderlich, wie dieser nun begriff. „Hättest uns beinahe ebenfalls an der Nase herumgeführt mit deiner gräflichen Verkleidung“, dröhnte Fettbart. „Aber wir haben sie durchschaut.“
Enki erinnerte sich daran, wie ihn seine Gauklerfreunde erst vor kurzem ebenfalls für einen Hochstapler gehalten hatten, als sie ihn in seiner neuen Adelskleidung angetroffen hatten.
„In letzter Zeit passiert mir das zu oft“, knurrte er.
„Dann wird es Zeit, die Berufung zu wechseln“, meinte Fettbart. „Wie wär´s? Einen geschickten und schlauen Mitstreiter wie dich können wir immer gebrauchen!“
Der Gefangene beschloss, vorerst gute Miene zu bösem Spiel zu machen.
„Naja“, antwortete er, „wenn ihr vorerst noch nicht nach London segelt, muss ich wohl bleiben.“

Die Aufnahme eines Neulings in die Piratenmannschaft wurde nicht von jedermann mit Freude begrüßt. Zum einen war den Seeräubern ja das Lösegeld entgangen, das sie für Enki hatten verlangen wollen. Zum anderen stand der Neue mit seinen gewinnenden Scherzen und Taschenspielertricks für den Geschmack der einfachen Matrosen bereits viel zu hoch in der Gunst des Kapitäns.
Einige segelten schon mehrere Jahre mit Fettbart, ohne nenneswert in der Hackordnung aufgestiegen zu sein. Dieser Enki aber, der speiste ganz selbstverständlich am Offizierstisch und wurde in jede Beratung einbezogen. Wann immer jemand den Neuen spielerisch herausforderte, stellte er sich als geübt genug mit einer Blankwaffe heraus, um sich zwar nicht hervorzutun, wohl aber zu behaupten. Wenn Enki merkte, dass sich die Stimmung gegen ihn wandte, spielte er des Abends auf der Fiedel und weil er das so beeindruckend konnte, war er danach wieder jedermanns Freund.

Kurzum, Enki hätte eine angenehme Zeit auf der „Schwarzen Möwe“ verleben können, wäre da nicht stets der Gedanke „Was tue ich, wenn sie einen Überfall unternehmen“ durch seinem Kopf gekreiselt. Denn so geeignet sich der Spielmann auch für das Piratenleben herausgestellt hatte, so wenig wünschte er sich eine derartige Existenz. So sehr Enki die Adelsherrschaft verurteilte, deren Gesetze mehr als einmal gebeugt und sogar Vogelfreie unter seinen Schutz gestellt hatte, in seinem ganzen Leben hatte der Mann doch nie die Grenze zum Kriminellen überschritten. Doch in manchen Nächten, wenn der Grog reichlich floss, und sich das Firmament über seinem Kopf so schnell drehte, dass die Sterne zu einem einzigen goldenen Streifen verschwommen, da fragte sich Enki „Wieso eigentlich nicht?“.
Es wäre doch so einfach…

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Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von rosa » Mi 29. Jul 2015, 07:56

Hallo Enki :)

super geschrieben.. Hut ab !!!
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Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 29. Jul 2015, 21:45

Danke, das hört man gern :)

So, den Enki hätte ich erstmal kaltgestellt, jetzt kann wieder mehr das Dorf im Vordergrund stehen, wie der Titel verspricht.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 29. Jul 2015, 21:53

Während sich Enki mit seinem Piratendilemma herumschlug (und wohl bisweilen auch mit den Piraten selbst, wie das Leben auf der „Schwarzen Möwe“ eben so spielte…), ging das Leben in Mühlingen seinen gewohnten Gang.

Enkis im Dorf zurückgebliebener Diener Katzmann hatte das Dorf schon zeitig an diesem Morgen verlassen. An den Obsthainen vorbei war er durch den Wald gelaufen, bis er des Mittags die Jagdhütte erreichte. Hier lebte Mathilde, die gräfliche Jägerin, eine besondere Freundin seines Herrn.
Aus von daheim mitgebrachten Erdäpfeln, Zwiebeln und frischen Eiern richtete Katzmann auf Mathildes Herd eine deftige Mahlzeit an. Dazu wurde Limonade getrunken, die der Mann auf dem Herweg an einer der Mostereien erworben hatte. Auf Wildbret mussten die Gäste in der Kutschenstation sowie der Graf seit einer Weile verzichten, denn Mathilde hatte jüngst entbunden und war noch nicht wieder fähig, ihren Aufgaben vollumfänglich nach zu kommen.

Niemand löcherte Mathilde mit Fragen, wer wohl der Vater des Knäblein sei. Diese Frage stellte sich ganz einfach nicht in der Grafschaft Bachental, wo illegetime Söhne eine Art Familientradition darzustellen schienen. Dennoch sprach Enkis Diener die bewusste Frage voller Ernst aus, als er, Mathilde und ein Gast zu Tisch saßen:
„Komm schon, Hilde, wer ist es denn nun? Enki der Spielmann oder der älteste Sohn des Grafen von Bachental?“
Gemeint war natürlich ein- und derselbe Mann, dennoch hing von der Unterscheidung nicht wenig ab…
Der ortsfremde Gast musterte Katzmann lange und eindringlich, dann meinte er: „Deine Gedanken gehen interessante Wege, mein Sohn.“

Bei dem Besucher handelte es sich um den Mönch, der vor vielen Jahren durch Mühlingen gezogen war. Nun schien er sich hier niederzulassen zu wollen oder hatte einen Auftrag dazu erhalten, so genau wusste das Katzmann nicht. Wenn es für ihn wichtig zu wissen wäre, würde man es ihm schon mitteilen, fand der Mann.
Mit Staunen hatte der Wandermönch sich alles angehört, was sich seit seinem ersten Besuch im Dorf zugetragen hatte. Besonders die Geschichte, wie Enki den Dorfschulzen Ottmar aus einem brennenden Haus gezogen haben sollte, amüsierte den geweihten Mann. Denn er war ja dabei gewesen, als Enki Ottmar während er einer Diskussion das Fegefeuer betreffend eigenhändig in einen Backofen geschubbst hatte… offenbar strebte alles in der Welt nach Ausgleich.

„So, nun aber!“ Katzmann schlug mit der Faust auf den Tisch. „Dem Priester wirst du´s doch wohl nicht verschweigen!“
„Wieso?“ grinste Mathilde. „Der Herrgott weiß es doch längst. Wenn dieses Wissen für seinen Diener von Belang wäre, hätte er es mit ihm geteilt.“
Katzmann zuckte zusammen, als ihm die eigenen Worte auf diese Weise ins Gesicht geschleudert wurden.
Mathilde ergriff die Hand des Mannes. Versöhnlicher fuhr sie fort: „Es ist Enkis. Du weißt, wir waren stets vorsichtig, doch kurz vor seiner Abreise, da drängte es mich, noch etwas von ihm zu besitzen in dieser Welt. Aber mit den Grafen soll der Kleine nichts zu tun haben. Er wird in dem Wissen aufwachsen, dass sein Vater ein Spielmann von großem Talent war.“
Katzmann schüttelte den Kopf. „Als ob jedes Schiff unterginge! Wäre dem so, es würde keine Seefahrt mehr betrieben!“
„Das wohl“, gab die Jägerin zu. „Aber selbst wenn dein Herr überlebt, du glaubst doch nicht etwa, dass er hierher zurückkommt?“
Als Katzmann daraufhin nur trotzig schwieg, schüttelte die Frau halb verständnislos und halb mitleidig den Kopf.
„Katze, du liebender Narr! Der Enki ist fort, draußen in der Welt, und wird es bleiben!“
„Das weißt du nicht!“
Unbeirrt fuhr Mathilde fort: „Über kurz oder lang werdet ihr im Dorf vergessen haben, welche Rosinen er im Kopf hatte und euch nur an das Gute erinnern, das mein lieber Freund in Gang gesetzt hat. Wie er allerlei Wunder nach Mühlingen brachte, aber letzten Endes entschieden NEIN sagte, als sein Vater zuviel von dem Örtchen erwartete. Erinnert nicht der Kanal noch an dessen Tollheiten?“

Beistand für Mathilde kam von unerwarteter Seite:
„Zwei verirrte Seelen hat Enki auf den rechten Weg zurückgeführt“, sprach der Mönch bedächtig zu Katzmann. „Deine* und die des Paul. Und ein Leben hat er gerettet, das eures guten Schulzen, dem du einmal nachfolgen wirst. Mathilde hat Recht, ihr solltet es alle dabei bewenden lassen.“

*... Katzmann ist mein NPC Dieb, Paule eine Figur aus einem früheren Kapitel. Den ehemaligen Räuber hat mittlerweile Saloniki für die Chronik von Freidorf ( http://forum.de.upjers.com/viewtopic.php?f=352&t=32113 ) adoptiert.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Sa 1. Aug 2015, 23:27

„Und?“ erkundigte sich Mathilde bei den Männern. „Wie steht es ansonsten um das Dorf und die weite Welt?“
„Ach…“
Katzmann schob seine Schüssel von sich, als habe ihm die Frage den Appetit verschlagen. Dabei war der ganze Bratkartoffelberg längst aufgegessen.
„Der alte Graf sieht sich jetzt als großen Fernhändler“, erklärte Enkis Diener. „Sein älterer Sohn, mein Herr, bereist ja nun die Ostsee und der mittlere führt diesen Türkentrank ins Land ein. Nun soll Bachental nachziehen. Von allen Dörfern der Grafschaft wurde wieder einmal Bachental für die Experimente auserkoren. Der Herr Enki ist ja fort und kann nicht widersprechen... Denkt nur, eine Ladung lässt der Graf aus dem Thüringschen kommen!“
„Daran ist doch nichts törricht“, widersprach Mathilde lauthals. Mit einem Blick auf ihr selig in der Wiege schlummerndes Söhnchen fügte sie hinzu, dass Anis nicht nur in der Weihnachtsbäckerei, sondern auch im Alltag so manche nützliche Wirkung besäße.
Katzmanns nächste Worte ernüchterten die junge Mutter: „Um das Zeug hier anzupflanzen, Hilde!“
„Aber nein! Haha!“ Selbst die Jägerin, die sich nicht auf den Ackerbau, wohl aber auf allerlei Kräuter, verstand, erkannte die Torheit. Die Gegend konnte einfach nicht mit den warmen Sommern und trockenen Herbsttagen aufwarten, in der das Anisgewächs so vortrefflich gedieh. „So ein Schmarrn!“
„Eben! Bloß – stellst DU dich vor den Herrn Grafen und erklärst ihm das?“
„Nein!“ Mathildes vehementes Kopfschütteln ging in ein belustigtes über. „Na, jedenfalls ist nun klar, von wem Enki seine Einfälle hat. Ganz der Sohn seines Vaters!“
„Pass nur auf, dass deiner nicht in dieselbe Kerbe schlägt!“
„I wo! Klein-Enki wächst bei mir im Wald auf, aus dem wird einmal ein rechter Jäger, ein Holzfäller oder Bergmann. Aber selbst wenn er unter Räuber gehen sollte, dann wird er ein Räuber, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen steht. Auc noch, wenn die Luke vom Galgen unter ihm aufgeht!“
Katzmann und der Mönch lachten herzlich! Mathildes dreiste Wortspielereien mussten es gewesen sein, die den Spielmann auf sie aufmerksam hatte werden lassen. Es war wahrlich schwer, sich dem frohen Wesen der Frau zu entziehen.
„Billig kann der Spaß nicht sein“, warf der Wandermönch ein, auf das Thema Anis zurückkommend.
Katzmann bestätigte die Vermutung: „Zwoeinhalbtausend Taler verlangen die Thüringer für ihre Saat. Den schlimmsten Fall angenommen geht kein einziges davon auf. Den Verlust muss der Graf irgendwie reinholen. Weiß der Teu… der Kuckuck, wie diese Rechnung aufgehen soll!“
„Der Kuckuck sicher nicht und den Leibhaftigen lass mal aus dem Spiel“, meinte Mathilde. Dann eröffnete sie den Männern allen Ernstes, dass sie die Lösung für Mühlingens Geldproblem kenne.
Katzmann scharrte mit den Füßen. Der Mönch legte den Kopf schief. Es war ja nicht die Tatsache, dass Mathilde eine Evastochter war, die sie skeptisch bleiben ließ – doch auf ihre Weise vermochte auch die bodenständige Jägerin weltfremd zu sein. Welchen vermeintlichen Trumpf würde sie wohl aus dem Ärmel schütteln?
Ach, was, dachte Katzmann bei sich. Anhören kann man sich es ja mal!

Anmerkung: Anis wurde empfängnisfördernde Wirkung nachgesagt.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 2. Aug 2015, 21:31

Geheimnisvoll bat Mathilde Katzmann, ihr einen ganz bestimmten Tonkrug zu bringen, der an der Feuerstelle stand. Was wohl darin sein mochte? Am Ende hatte Mathilde heimlich still und leise die Monsterwildschweine des Mühlinger Walds zur Trüffelsuche abgerichtet!
Doch, nein, etwas klapperte in dem Behältnis, während der Mann es zum Tisch trug. Im Inneren des Krügleins befanden sich fünf im Licht der Kerzen funkelnde Edelsteine.
„Na, habe ich zuviel versprochen?“
„Ja.“
Die Jägerin fuhr auf! „Was soll das heißen, ja?!“
Katzmann ließ die Schultern hängen. Als ehemaliger Dieb kannte er sich bestens mit dem Wert eines Gegenstandes aus und diese Funkelsteinchen hier, die waren eindeutig zu wertvoll.
Was das bedeuten sollte, verlangte Mathilde zu wissen. Wie konnte etwas ZU wertvoll sein? Natürlich kam es vor, dass etwas zu teuer war, um es sich zu leisten. Um manche Waren zu erwerben, musste man schon ein Handwerker oder das Weib eines solchen sein. Was Mathilde betraf, so verzichtete sie lieber auf derlei Luxus und blieb in ihrem Wald.

Dem Mönch wiederum ging eine andere Frage durch den Kopf: „Woher stammen die?“ Du willst doch nicht etwa die Ersparnisse deines Lebens hergeben? Gerade jetzt wäre das alles andere als ratsam!“
„Die Edelsteine haben mir die Arbeiter in dem kleinen Bergwerk, das Enki damals erworben hat, geschenkt“, gab Mathilde Auskunft. „Sie hatten sich auf einer ihrer Zunftfeiern betrunken und einen Bären gereizt. Glücklicherweise befand ich mich in der Nähe und…. Nun ja, es war ein hübsches Abenteuer, doch ich brauche keine Edelsteine, um mich daran zu erinnern. Hingegen Enkis liebes Mühlingen vor dem Zorn des Grafen zu bewahren, das wäre es mir wert, die Gemmen herzugeben.“
„Nur wird Ottmar keine Abnehmer dafür finden“, beharrte Katzmann. „Glaub mir nur ruhig auch mal etwas! Edelsteine dieser Reinheit lassen sich nicht in Geld umwandeln. Damit machst du Bamberg arm - wenn es überhaupt so viele Münzen in der Stadt gibt!“

„Hm…“
Während Mathilde und Katzmann noch hin und her diskutierten, entnahm der Mönch dem Krug einen der Steine. „Aber eintauschen, gegen etwas ähnlich Seltenes, ließen sie sich doch wohl“, überlegte der Mann laut.
Katzmann musste einlenken, dass dem tatsächlich so wäre. Ihm fielen sofort die Walnussbäumchen ein, die man bisweilen in den Gärten reicher Edeleute sah. Sicher würde die Prinzessin Soraya ein paar davon besitzen, aber schon beim Grafen von Bachental war es fraglich.
„Walnüssbäume bekäme man sicher für die Edelsteine“, meinte auch der Mönch. „Oder Mangalica-Schweine.“
„Was ist das für eine Sorte? So fette Brummer wie unsere hier?“
„Nein, Katzmann. Das sind blaue Schweine, die Wolle geben.“
Hatten sie sich eben beinahe noch gestritten, so lachten Katzmann und Mathilde nun in schönstem Einvernehmen. Schweine, die Wolle geben sollten! Da hatte der geweihte Mann aber eindeutig einen zuviel über den Durst getrunken!
„Jaja, das gute Bier in der Mönchsklause!“ rief Katzmann aus. „Das werdet Ihr hier vermissen, Vater.“
Dieser schmunzelte nur. Die beiden würden ja sehen, wer zuletzt lachte.
„Mangalica-Schweine also, als Ergänzung zu euren Zackelschafen. Da lohnt es sich bald, eine Weberei einzurichten… Ein feiner Plan, den du dem Schulzen antragen kannst. Doch löst er nicht das dringliche Problem, die drohenden Verluste aus dem Anisgeschäft aufzufangen.“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 3. Aug 2015, 22:40

Nachdenklich kehrte Katzmann ins Dorf zurück, das er gegen Abend erreichte. Der Graf und sein dämliches Anisgeschäft! Selbst in seinen Tagen als Dieb hätte „Katze“ nie und nimmer eine vierstellige Talersumme zusammenbringen können! Zumeist hatte er ohnehin von der Hand in den Mund gelebt: ein gebratenes Hühnerbein hier, ein halbleerer Krug Pflaumensaft da, eben Dinge, die wohlhabendere Personen leicht außer Acht ließen. Oder er hatte Gatterteile von ihrem Platz entfernt und gegen irgendeinen Mist eingetauscht, der ihm am Ende einer langen Tauschkette eine warme Mahlzeit eingebracht hatte.
Nach genau so einer Mahlzeit gelüstete es Katzmann an diesem Abend. Eine schlichte Schüssel Gerstenbrei ließ sich in Mühlingen derzeit gewiss leicht auftreiben, denn gar reichlich war die Kornernte ausgefallen. Doch als der Mann im kleinen, an die Kutschenstation angeschlossenen Gasthaus danach fragte, wurde er mit einem bedauernden Arme-ausbreiten abgewiesen. Die Gerste, so erfuhr er, hatte jemand aufgekauft.
„Doch nicht etwa Franz?“
Katzmann schüttelte sich bei dem Gedanken, in Zukunft nur noch Gerstenbrot in der Bäckerei vorzufinden.
„Nein, nicht der. Der Wirt von der Garküche, die uns beliefert. Probier´s doch mal da drüben, vielleicht hast du da mehr Glück.“
„Hm… ja, werd ich tun. Sei bedankt und gehab dich wohl!“

Nur ungern kehrte Katzmann beim dicken Wirt ein. Einen Eigennamen schien er Mann nicht zu benötigen. Er war entweder „der feiste Wirt“ oder eben „der neue Wirt“, je nachdem, ob man die Qualität seiner Speisen loben oder seinen Status als Zuwanderer hervorheben wollte. Ungeachtet dessen, dass viele Mühlinger älter als die Siedlung selbst waren, galt strikt jeder, der sich erst nach dem Krieg* hier niedergelassen hatte, als Neu und würde es bis zu seinem Tode bleiben.
Katzmann mochte den Kerl weder leiden, noch wurde er schlau aus dem Wirt. Auf der einen Seite schien er ebenso ehrgeizig zu sein wie der Müller, auf der anderen lautete jedes zweite seiner Worte „der Herr, der Herr“, womit allerdings nicht der liebe Gott, sondern der weltliche Landesherr gemeint war. Bevor der junge Dieb in Enkis Dienste getreten war, hatte er so manche Drohung und auch Prügel vom feisten Wirt kassiert. Nun hingegen genoss er bei diesem einen Abglanz der Verehrung, die seinem adligen Dienstherrn zukam, als habe die Vergangenheit nie stattgefunden.
„Vielleicht sollte ich ihm einfach mal eine Schüssel Brei unter Nase wegstehlen, um herauszufinden, welches denn nun sein wahres Gesicht ist“, sprach Katzmann zu sich.

Der Gast hatte gerade Platz genommen, das stieg ihm ein wohlvertrauter Geruch in die Nase.
„Nanu, Meister Feistian?“ wunderte sich Katzmann. „Seit wann ziehen wir denn Runkelrüben in Mühlingen?“
„Oh, die sind nur kur hier, nur kurz!“ Der Wirt rieb sich die Hände - voller Vorfreude, wie es Katzmann schien. „Nur solange, wie es dauert, sie zu putzen und zu häckseln und… nun, du wirst es ja bald sehen. Kanns kaum erwarten!“
Feistian wedelte rasch mit einem Wischtuch über Katzmanns Tisch, dann erkundigte er sich nach seinen Speisewünschen.
„Gerstenbrei, Katzmann? Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen.“
„Dann koch mir eine Suppe aus deinen Rüben!“
Doch der Gast musste sich darüber aufklären lassen, dass auch die Rüben nicht zum Verzehr bereit stünden.
Katzmann seufzte. Was nützten ihm all seine neuerdings ehrlich verdienten Taler, wenn er weit und breit kein Abendbrot auftreiben konnte? „Bring mir einfach eine Schüssel Haferbrei, ja? Zumindest das wird es doch noch geben.“
„Öhm – nein. Nur kalte Speisen heute abend. Tut mir leid, aber sämtliche Kessel sind belegt,“
„Himmelherrgottsakramentnochmal!“ schimpfte Katzmann. War denn das ganze Dorf heuer übergeschnappt?! Die benahmen sich ja alle, als verlange er nach feinem Trüffelkäse!
„Die gesamte Überproduktion an Gerste hast du aufgekauft, Rüben noch dazu, was rührst du daraus an, in deinen Kesseln? Ein neues Viehfutter für Herrn Enkis Monsterschweine etwa?“
Katzmanns Ausbruch brachte den Wirt zum Lachen! „Genau das Gegenteil, mein Junge, genau das Gegenteil!“ Feistian beugte sich zu dem Gast herunter und flüsterte verschwörerisch: „Du wirst es sofort erkennen, wenn die ersten Schwaden aus der Küche gedampft kommen. Aber nur du. Haha! Augen wirst du machen! Augen wie Taler!“

*… gemeint ist ein Scharmützel aus einem der vorherigen Kapitel, das Mühlingen für kurze Zeit zu einem Nebenschauplatz im Bauernkrieg machte

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 4. Aug 2015, 20:10

Mit dem Kopf auf den Armen fläzte Katzmann auf einem der Tische vor der Garküche.
„Vergraulst mir noch die Kunden, mit der Fleppe, die du ziehst!“ rügte der Wirt.
„Kann dir doch recht sein, am Ende hätte sonst noch jemand etwas bestellt!“ schoss Katzmann zurück.
So ging es hin und her, bis selbst die Sonne das Trauerspiel nicht mehr mit anhören mochte und sich anschickte, schlafen zu gehen.
Mit einem Mal hob Enkis Diener den Kopf.
„Na, aber… da soll mich doch! Ist das etwa…?“
Wumm!
Mit Schwung, das Gesicht voll gespannter Erwartung setzte Feistian einen großen Pott vor seinem Gast ab. Der Inhalt war kochendheiß, also nicht gerade das, was man sich an einem Hochsommertag ersehnte. Doch dem verlockende Duft, der von dem Getränk ausging, vermochte Katzmann nicht zu widerstehen. Erst einmal in seinem Leben hatte er derartiges vorgesetzt bekommen, als er nämlich als Spion zwischen Enki und dessen jüngeren Bruder Amadeus hin- und her gependelt war. „Botengänge“ hatten die Grafensöhne diese Einsätze genannt…

„Das ist doch kein Kaffee, oder?“ erkundigte sich der Mann beim Wirt.
„Sag du es mir! Du bist doch hier im Dorf der Experte dafür!“
Vorsichtig hob Katzmann den Pott an. Zuerst schnupperte er an der schwarzbraunen Flüssigkeit. Dann nippte er, einmal, zweimal, dreimal.
Und dann starrte er den Wirt wie vom Blitz getroffen an, denn es handelte sich tatsächlich um Kaffee!
Doch wie konnte das sein? Amadeus von Bachental hatte einen Schmuggler vor dem Gericht gerettet, der ihn seither eher unregelmäßig mit den Bohnen versorgte. Andere Herren ließen es sich Goldbarren kosten, das Zeug aus dem Morgenland einzuführen. Und ausgrechnet der dicke Wirt aus dem kleinen Flecken Mühlingen wollte seinen Gästen Kaffee servieren?

„Was du trinkst, ist in Wirklichkeit ein Gebräu aus gemahlener Gerste und Rüben“, eröffnete Feistian seinem Gast.
In hohem Bogen spuckte Katzmann das Getränk über den Tisch! „Igitt!“
„Na, aber! Bevor du wusstest, was drin ist, hat es dir doch gemundet!“
Katzmann drehte den Becher in seiner Hand. „Mhm, ja, das stimmt schon. Aber verdammich nochmal, damit kannst du dir gehörigen Ärger einhandeln! Von wegen Warenfälschung, damit kennen die Herren keinen Spaß!“
„Ja, sicher, wenns denn ein Produkt aus deutschen Landen wäre. Aber etwas, worauf kein Untertan des Königs Anspruch erheben kann, es erfunden zu haben, für das es auch keinerlei Reinheits- oder Herstellungsgebot gibt, wie kannst du das fälschen? Ich würde eher sagen, ich habe etwas Neues erfunden. Wills auch gar nicht groß verschleiern, und schlicht Gerstenkaffee nennen.“

„Kaffee… aus Gerste…“ Katzmanns Gedanken überschlugen sich. Das Volk würde Feistian seine Erfindung aus den Händen reißen. Der Adel aber angesichts der verwendeten Zutaten die Nase rümpfen und dem echten, teuren Kaffee nur noch reichlicher als bisher zusprechen, um zu zeigen, dass man es sich leisten konnte. Daher durften Amadeus mit seinem geschmuggelten Kaffee und Mühlingen mit dem Ersatzgetränk aus Gerste gleichermaßen reichliche Gewinne erwarten.
Katzmann überschlug ein paar Zahlen im Kopf. Am Ende fiel ihm ein Stein vom Herzen, denn die zu erwartenden Abgaben aus der Garküche trugen einen großen Teil dazu bei, die Aniskrise abzuwenden.
So hatte sich am Ende doch noch alles ins Lot gefügt.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 4. Aug 2015, 20:27

weiter so....immer schön zu lesen...

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