Die Dorfchronik von Mühlingen

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 1. Jun 2014, 16:26

Viehweidhalt war ein beschaulicher kleiner Weiler im Bamberger Land. Vor Zeiten hatte sich hier lediglich eine große Wiese befunden, auf der Blumen und Kräuter wild wucherten. Dann hatte der alte Graf von Bachental, zu dessen Besitztümern der Flecken Land gehörte, es seinem Sohn Enno-Kilian, genannt Enki, zum Geschenk gemacht. Doch dieser wusste nichts mit seinem neuen Besitz anzufangen, da er bis dato das Leben eines herumziehenden Spielmannes geführt hatte. So hatte Enki sich den Rat seines Freundes Ottmar zu Herzen genommen, einen Verwalter eingesetzt und diesem aufgetragen, nach Hirten zu suchen, die sich hier niederlassen und das Land von ihrem Groß- und Kleinvieh beweiden lassen wollten. Dabei war es bis heute geblieben. Wann immer Durchreisende fragten, wie dieser Ort wohl hieße, so erhielten sie zur Antwort, „Na, es ist halt ne Viehweide!“. Daher der Name „Viehweidhalt“. Die Bewohner nannte ihr Dörfchen allerdings weiterhin nur „das Dorf“... Sie zogen ihre Kühe, Schafe, Ziegen, Schweine, Hühner und Hasen groß, dazu eine kleine Herde Hirsche (im Spiel: Rentiere), für den Fall, dass es ihren Herrn nach einem Jagdausflug gelüstete. Damit jeder wusste, wo das Dorf aufhörte und der Rest der Welt begann, wurde Viehweidhalt von Obstbäumen gesäumt, welche wiederum einen Imker mit seinen Bienen angezogen hatten. Einen kleinen Teil der im Dorf hergestellten Produkte verarbeiteten die Menschen selbst, die meisten Rohstoffe aber wanderten in die großen Städte. Eine Garküche sorgte für das leibliche Wohl der ortsansässigen Hirten wie auch der Tagelöhner, doch letztere leistete man sich nur selten. Es gab in dem winzigen Ort einfach nicht genug Arbeit, um auch noch fremde Hände damit zu beschäftigen. Nur wenn der Verwalter sah, dass ein Wanderarbeiter mit seiner Familie den Lohn - oder auch nur ein Dach über den Kopf für eine Woche - dringend nötig hatte und es auch sonst in der Gegend keine andere Beschäftigungsmöglichkeit gab, stellte er diejenigen außer der Reihe ein. Zum einen hatte es ihm Enki so befohlen und zum anderen kamen Menschen, denen man einmal solcherart geholfen hatte, gern wieder, wenn das Dorf wirklich einmal selbst Hilfe nötig hatte.
Auf diese Weise wurde man natürlich nicht reich, prunkvolle Bauernhäuser wie anderswo suchte man hier vergebens. Aber man zog auch weniger Ärger auf sich als beispielsweise das aufstrebende Mühlingen, und obwohl das Dasein eines Viehhirten bei weitem kein Zuckerschlecken war, war ihre Arbeit leichter als die eines Bauern und es blieb viel Zeit für Muße. Zuerst hatten sie diese genutzt, um nicht nur warmhaltende, sondern darüberhinaus auch kleidsame Wämse zu fertigen und kunstvolle Webmuster zu erfinden. Im Laufe der Zeit war sogar eine kleine Färberei enstanden, die, das muss so ehrlich gesagt werden, von einigen Dorfbewohnern bereits als zu hektisch, städtisch und überhaupt störend bezeichnet wurde.

Seit neustem trugen die Männer, welche die Steuern der Hirten und Handwerker eintrieben, ein anderes Wappen. Die Ortschaft gehörte nun nicht mehr Enki, sondern dem Grafen von Bamberg, so erfuhr man. Das war ein Angehöriger des Hohen Adels, der sein Amt direkt vom König und nicht von einem höherstehenden Edelmann erhalten hatte. Die Viehweidhalter hörten, dass es wohl zu einem Tausch oder Handel gekommen sei, sie nun einem anderen Herrn unterstellt waren, doch an ihrem Leben änderte sich nichts. Ihr Alltag blieb so beschaulich wie überschaubar, bis, ja, bis eines Tages…

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 10. Jun 2014, 15:05

Wenn Enki der Spielmann heutzutage einkaufen ging, dann verlangte er nicht mehr eine Schweinswurst im Brotfladen oder eine neue Spange für sein Schuhwerk, sondern ein Dutzend Pflugschare, einen Zuchtbullen oder ein neues Zahnrad für die Sägemühle. Und allmählich machte es ihm auch gar nichts mehr aus. Wie Roswitha so schön sagte, wuchs ein Mann mit seiner Verantwortung – selbst wenn es sich bei diesem Mann um Enki von Bachental handelte.
Doch an diesem Tag war es nichts mit den neuen Pflugscharen. „Das ist W….r! A…..e!“ ereiferte sich der Freiherr gegenüber seinem Handelspartner aus Köln. Dieser zog nur an seiner Pfeife und meinte: „Ihr könnt ja gern nach Bamberg fahren und schauen, wie dort die Preise sind. Tatsache ist, dass die Rohmaterialien eben kosten: Material, Arbeitstunden, Steuern… das alles will erstmal bezahlt sein. Und angesichts der Volksaufstände allerorten bezahlen die Grubenbesitzer ihre Hauer jetzt besonders großzügig, damit die ihnen nicht davonlaufen oder die Schächte einreißen.“
Enki nickte verstehend. Früher einmal hätte er es dabei bewenden lassen müssen, doch seit er zum Freiherrn aufgestiegen war, existierte noch eine weitere Option: „Dann kaufe ich das gottver… lassene Bergwerk eben!“
Die Küche in Mühlingen würde schon genügend Sauerkraut zur Versorgung der Arbeiter liefern, auch Ziegenmilch stand in dem Ruf, stark zu machen und der eine oder andere Erdbeerkuchen würde sicher auch abfallen, vom Gebrannten zu hohen Feiertagen gar nicht zu sprechen. Die Kutschenstation erhielte ebenfalls eine neue Aufgabe: Transport der Erze herunter aus den Bergen und des Grubenholzes sowie der Vorräte zurück nach oben.

Alles kein Problem. Jedenfalls nicht grundsätzlich. Denn obgleich Enki nun sowohl befugt als auch befähigt zu derartigen Geschäften war, ließ ihn der verlangte Preis hart schlucken.
„Ich überließe Euch die Mine für 100 000 Taler weniger“, bot der Grubenbesitzer an. „Unter einer Bedingung…“
Einhunderttausend? Schön dumm wäre es, dieses Angebot auszuschlagen, fand Enki! Daher hakte er nach: „Worin bestünde denn diese Bedingung? Lasst hören!“
„Euer Dorf muss sich für den Treibballwettbewerb qualifizieren. Mindestens die Vorrunde gilt es zu schaffen. Bedenkt, dass ich dieses Angebot nicht nur Euch allein unterbreite – je besser Ihr abschneidet, umso förderlicher wird es für Euch sein.“
Enkis erster Gedanke bestand in: „Kann mich bitte jemand erschießen?“, doch dann drängte sich ihm ein zweiter auf: „Nee, lieber nicht, die nehmen am Ende noch so einen Ball dazu…“
„Nun?“ forschte der Grubenbesitzer. „Schlagt Ihr ein, Von Bachental?“
„…ja.“
„Na, dann lasst es ab heute auch an den Stadttoren schön krachen!“

Next: Und was geschah inzwischen in Viehweidhalt?
Ja, was schon ;)

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 11. Jun 2014, 17:42

In Viehweidhalt herrschte helle Aufregung. Das gesamte Dorf befand sich auf den Beinen, wie jedesmal, wenn man einen der Fahrenden Händler bedienen konnte. Zum einen hatte der Landesherr angeordnet, die Fliegenden Händler trotz der geringen Entgelte, die diese zu zahlen pflegten, zu bedienen. Denn sie brachten die Ware in die großen Städte, wo sie den Ruf des Spenders erhöhten. Zum anderen waren die Bewohner des kleinen Weihers stolz darauf, auch einmal mit den größeren Dörfern wie Mühlingen oder gar Freidorf mithalten zu können.
Aus diesem Grund packte heute jeder mit an, selbst jene, deren Hilfe nicht benötigt wurde und die genaugenommen nur im Weg standen. Zwölf Kisten Kuhmilch und noch einmal zwölf von der Ziege galt es zu verladen. Doch mitten im Aufladeprozess ertönte plötzlich Gejohle wie von einer Bande raubgieriger Hunnen. „Das ist wilde Jagd!“ entfuhr es einem abegläubigen Dörfler, als sich eine Staubwolke aus dem Tal heranwälzte und unter bedrohlichsten Bebrüll auf Viehweidhalt zuhielt. Aus dem Gewusel flog eine Kugel in Richtung des Dorfeingangs. Ein schwerer Lederball sauste mitten zwischen die Dörfler, riss die zum Einpacken aufgereihten Milchkannen um und kullterte dann unter einen Wagen. Die gute Kuhmlich aber versickerte im Boden, da die Männer und Frauen sich bei dem Versuch, die Kannen zu retten, gegenseitig auf die Zehen traten.
„Das war ein Punkt für Angelbachtal!“ rief eine menschliche Stimme.
„Du Betrüger!“ ereiferte sich eine andere. „Jeder konnte sehen, dass Mühlingen geschossen hat!“
Die Dörfler richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Burschen, die da zankten. Es handelte sich um eine wilde Meute junger Männer aus verschiedenen Dörfern.
Der Fliegende Händler aber baute sich auf seinem Wagen auf, reckte sich zu voller Größe (und Breite), ballte die Rechte zur Faust und rief drohend: „WER! WAR! DAS!“ Des Mannes linke Hand ruhte auf dem Griff einer langen und bedrohlich aussehenden Fuhrmannspeitsche, die an seinem Gürtel hing. Er wirkte wie jemand, der gewohnt war, sich mit dieser auch gegen Wegelagerer zur Wehr zur setzen.
Auf einmal wollte niemand mehr geschossen haben…

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Do 12. Jun 2014, 15:40

Da geschah es: Hufgetrappel näherte sich dem Dorfeingang, dann sah man die im Wind flatternde Mähne eines Falben auftauchen. Ein einzelner Reiter kam den Pfad hinaufgeritten, der zum Dorf führte. Er schien es eilig zu haben, Viehweidhalt zu erreichen.
„Nanu?“ wundert sich Katze, einer der Treibballspieler aus Mühlingen. „Das ist doch unser Herr Enki! Was mag der hier wollen? Ich meine, außer uns die Hölle heiß zu machen. Dafür würde er sich nicht extra auf ein Ross bemühen.“
In der Tat lag der Reitsport dem ehemaligen Wandermusikanten nicht sonderlich. Doch mittlerweile gab Enki zumindest keine lächerliche Figur mehr ab wie dereinst im Kampf um Mühlingen – wenn es auch anzuzweifeln war, ob er es auf einem Pferd jemals zu einer eindrucksvollen Haltung bringen würde.
„Mühlingen hat diesen Punkt erzielt!“ donnerte der Reiter, kaum dass er die Lage am Dorfeingang überblickt hatte.
„Oh, mein Gott“, dachte Enki bei sich. „Was für eine Textzeile… Da komme ich hier an wie ein sagenhafter Held, um dann in meiner ganzen heldenhaften Herrlichkeit so was zu rufen? Das ist ja noch peinlicher als das Botoxiwettessen weiland in Angelbachtal, wo man nicht die Miene verziehen durfte…“
„Dann wird Mühlingen auch die Milch ersetzen?“ erkundigte sich Fahrende Händler nach einem Blick auf das Wappen des Ankömmlings.
„Selbstredend“, erwiderte Enki. Dann lenkte er sein Pferd zu Katze, lächelte seinen Diener freundlich an und meinte: „Und nun haltet euch ran, Katze, du und deine Jungens! Ich bin euch nur deswegen auf diesem unsäglichen Monster gefolgt, um euch den offiziellen Auftrag zu erteilen, für Mühlingen Punkte zu erspielen.“
Der junge Mann wunderte sich nicht schlecht: „Nanu? Was hat denn diese neue Einstellung bewirkt?“ Doch sein Nebenmann lachte nur: „So sind sie, die hohen Herrschaften. Für uns zählt doch nur eins: Wir dürfen jetzt mit Herrn Enkis Segen weiter Fußball spielen!“
„Fuß-Ball? Sprich für dich selbst“, grinste Katze. „Ich werfe die Pille lieber durchs Tor!“
„Ja, nur erstmal muss sie dort ankommen und da muss man sie eben it den Füßen kräftig vorantreiben. Nicht dass sie uns noch abseits im Wald verschwindet!“
Unter dereil „Fachsimpeleien“ zogen die Ballspieler ab, um das nächste Dorf mit ihrem Können zu, äh, beglücken.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 17. Jun 2014, 12:44

Eine Woche später war es dann soweit: Das kleine Bergwerk ging in Enkis Besitz über. Reiche Vorkommen an Eisenerz und Kupfer sowie die Aussicht auf ein wenig Zinnerz winkten in der Tiefe. Mit einem Male war der Freiherr überaus dankbar für den Kanal, den sein Vater die Mühlinger hatte anlegen lassen. Denn die Unmengen an Wasser, die fürs Feuersetzen in den Stollen benötigt wurden, mussten ja ersteinmal irgendwo herkommen!
Einige Zeit lang war „ihre“ neue Mine das Tagesgespräch in Mühlingen. Jeder wollte sich plötzlich mit den Abbautechniken, den Erzarten und nicht zuletzt den Namen der stattlichen Bergleute, die dort arbeiteten, auskennen. Merkwürdig war das Ganze schon, denn die Mine hatte sich schon lange vor der Gründung des Dorfes in den Bergen befunden, ohne dass ihr jemand Beachtung geschenkt hätte. Doch nun gehörte sie praktisch zu Mühlingen dazu.
Wenn die Dorfherren allerdings glaubten, dass damit die Treibballgeschichte ausgesessen wäre, so mussten sie sich eines Besseren belehren lassen. Zum einen war Mühlingen eine Runde weitergekommen. Zum anderen hatte der Graf Wind von der Geschichte bekommen. Die Dörfer seiner Kinder maßen sich also in einem Wettstreit? Anstatt nun eine stattliche Belohnung für den Sieger in Aussicht zu stellen, verfuhr der Bachentaler genau andersherum: Er drohte Lisbeth, Enki und Amadeus, dass derjenige von ihnen, der am schlechtesten abschnitte, seinen Unmut zu spüren bekommen würde. „Eine gesunde Konkurrenz unter den Kindern“, meinte der Alte, „wird sie mir stärken für die Tage, wenn ich dereinst nicht mehr bin.“
Enki verdoppelte die Wachen an beiden Toren, so dass es aussah, als sei anstatt eines Ballspiels der Bauernkrieg ausgebrochen. Denn von seiner Halbschwester würden wieder die üblichen Sabotageakte zu erwarten sein. Amadeus hingegen war schieriger einzuschätzen.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 23. Jun 2014, 16:12

Amadeus von Bachental steckte tatsächlich voller Überaschungen. Heute beispielsweise hatte er sich unangemeldet in Mühlingen eingeladen. Auf dem Balkon von Enkis im Hanse-Stil erbauter Residenz sitzend rollte der Edelmann einen Eierkuchen zusammen, den er sich anschließend in den Mund schon und mit zwei, drei Bissen verschlang. Von Adel zu sein, schoss es Enki durch den Kopf, schien zu bedeuten, mit denselben schlechten Tischmanieren wie ein Bauer durchzukommen.
„Von der Mine solltest du dich so schnell wie möglich wieder trennen, großer Bruder“, riet Amadeus dem Herrn von Mühlingen. „Die Kumpel dort fressen dir doch die Haare vom Kopf!“
„Haha, schön wär´s!“ erwiderte Enki lachend. „Wenn´s nur die Haare wären, käme am Ende sicher mehr herum! Krauteintöpfe, Pfannkuchen und ganze Torten werden da oben im Berg verschlungen. Aber da kann man nichts machen, Pflugschare wachsen nun einmal nicht auf Bäumen.“
„Stimmt, die Zeiten sind vorbei“, stimmte Amadeus zu. Von den hölzernen Pflügen kam das Gespräch auf die alten Zeiten, die Ritterturniere, die am Kaiserhof veranstaltet wurden und passend zum Thema erkundigte sich Amadeus interessiert, ob Enki wieder einmal etwas von Rüdiger dem Geschichtsgelehrten gehört habe. Offensichtlich war der Bruder bestens informiert über alles, was sich in Mühlingen so zutrug. Schließlich meinte Amadeus: „Falls du deine Neuerwerbung abstoßen möchtest… ich wäre geneigt, sie dir abzunehmen.“
„Ach, daher weht der Wind!“ Erneut war es an Enki zu lachen. „Wie kommt´s? Hast du munkeln gehört, dass die Nachfrage nach Erzen in naher Zukunft steigen wird?“ Doch sein Lachen verging dem Mühlinger, als er genauer darüber nachdachte. „Doch nicht etwa für die Waffenproduktion?“ hakte er nach. „Steht wieder Krieg bevor?“
Amadeus musste ehrlich zugeben, darauf keine Antwort parat zu haben.
„Also nur so ein allgemeiner Trent, möglicherweise durch ein haltloses Gerücht entstanden“, schlussfolgerte Enki. „Hm.“
„Bist du eigentlich noch sauer, weil dich Vater damals an meiner Stelle ins Feld geschickt hat?“ erkundigte sich Amadeus.
„Nein.“
„Ah, gut!“
„Aber ich muss nicht auf jemand wütend sein, um es ihm heimzuzahlen…“
„Das würdest du doch nicht? Ich meine, ich habe ja nicht darum gebeten!“
„Kann ich nicht nachprüfen.“
„Dennoch… du würdest nicht… Es passt nicht zu dir.“
„Meinen Bruder zu schädigen? Da magst du sogar Recht haben. Einen Adligen, da stehen die Dinge anders. Also trink dein Bier aus und achte d´rauf, nicht vom Bruder zum Adligen zu werden, wenn du sicher vor Mühlingen sein willst.“ Enki stieß mit Amadeus an. „Ist ja auch so ein bedrohlicher Ort!“ meinste er grinsend.
„Klar, wenn ihr hier demnächst Piken schmiedet!“
„Nicht zu vergessen unsere Monsterschweine…“
Es wurden noch viele Biere an diesem Tag, doch die Konversation der Halbbrüder war schwer zu dokumentieren, da sie sich am Ende nur aus noch aus lallenden Lauten zusammensetzte. Halten wir einfach fest, dass die beiden einen guten Abend hatten. Zum ersten Mal fühlte Enki, dass ein Bachentaler ihm so etwas wie familiäre Verbundenheit entgegenbrachte. Natürlich, würde sich etwas davon versprechen, das lag ja auf der Hand. Dennoch: Weder Lisbeth noch der alte Bachentaler hätten sich auf ein Bier mit dem Bastard der Familie zusammengesetzt.
„Wensch… wennich dann auf mei´m Monschdarschwein dir midder Piekse dein Kopp abschlage“, nuschelte Enki, nur noch ansatzweise Herr seiner Zunge „dann wird mir dasch leid dun! Gansch ehrlisch!“ Dann wurde es irgenwie sehr hart unter ihm, aber das machte dem Mann nichts aus, da aich die Welt um ihn herum ohnehin verabschiedete.
„Dangge!“ strahlte Amadeus, bevor er ebenfalls sternhagelvoll unter den Tisch rutschte.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Sa 28. Jun 2014, 00:16

In den Morgenstunden nach dem Besäufnis und noch bis in den Nachmittag hinein, wünschte sich Enki bisweilen, jemand möge ihm tatsächlich den Kopf abschlagen. „Katze, sei so gut und bestell mir einen von diesen Fahrenden Henkern, auf dass der mir den Brummschädel von den Schultern trenne“, bat er seinen Diener. Doch der befand sich ja derzeit mit der Dorfjugend auf Punktejagd im Treibball. Vor dem Herrn von Mühlingen stand nicht Katze, sondern sein jüngerer Bruder Amadeus – ausgeschlafen, ausgenüchtert und grinsend.
„Nicht, dass ich mich deinem Anliegen grundsätzlich verwehren wollte, aber den Laufburschen für dich zu spielen, würde sich schon nicht geziemen, wären wir von selber Herkunft“, erwiderte Amadeus. „Du solltest anfangen, dir die Abgaben deines Brenners in Naturalien auszahlen zu lassen, dann bist du in kurzer Zeit ans Trinken gewöhnt.“
Enki schüttelte den Kopf. „Die Brennerei ist eine der wenigen, hm, Werkstätten, im Dorf, die mir eben keine Kisten mit Waren für die Tür stellt, sondern echte Silbertaler in die Kasse zahlt. Wenn ich mal einen Kohlrabi aus den Körben nasche, stellt das keinen Verlust dar, aber der Gegenwert einer ganzen Flasche Birnenschnaps, die in der Bilanz fehlt, weil ich den Inhalt die Kehle hinunterinnen ließ? Nein, das kann sich Mühlingen nicht leisten.“
„Du naschst Kohl zu deinem Vergnügen?!“ Amadeus konnte es kaum fassen. Da weiß ich jetzt nicht, ob ich dich einladen sollte, damit du mal etwas Gutes zwischen die Zähne bekommst, oder es sein lassen sollte, aus Furcht, du futterst mir die Tischblumen weg, weil du sie für die Vorspeise hältst.“
„Meinst du vielleicht, das wäre mir noch nie zuvor passiert?“ warf der vekaterte Enki seinem Bruder entgegen, woraufhin dieser ersteinmal dem Weib des guten Lot ähnelte, als diese des im Zorn des Herrn zu Schlacke zerschmolzenen Sodom ansichtig geworden war. Sprich: Er stand wie zur Salzsäule erstarrt.
Enki sonnte sich in einem kleinen Sieg und trat an die Brüstung seines Balkons. Sein Blick glitt unbewusst zur Jagdhütte. Dahinter erspähte er ein Fuhrwerk, das sich über die Straße näherte. Enkis Blick hellte sich auf. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Saloniki!“
„Wer?“ erkundigte sich Amadeus.
„Der Schulze von Freidorf. Mein Nachbar, der mir in letzter Zeit besonders ans Herz gewachsen ist, da er als scheinbar einziger in der Region nicht dieser Treibball-Narrtei frönt.“
„Ach so.“ Amadeus Interesse an dem Besucher erlosch sofort wieder, Enki jedoch rieb sich die Hände. „Sicher möchte mein Nachbar, dass ich zum Erntedank in Freidorf aufspiele“, überlegte er laut.
„Was?!“ entfuhr es dem jüngeren Edelmann. „Bist du jetzt vollends des Wahnsinns? Ich meine, natürlich, unsere Schwester wird sagen, dass ein Spielmann eben immer ein Spielmann bleiben wird, aber eben diesem Eindruck müssen wir entgegenwirken! Es ist völlig ausgeschlossen, dass du da drüben hinter dem Wald mit einer Fiedel in der Hand herumspringst!“
„Mühlingen zu regieren ist, was ich tue“, entgegnete Enki kühl. „Ein Musikant, was ich bin.“
„Wäre dir klar, was du bist und was nicht, mein Bester, dann müssten wir nicht streiten“, erwiderte Amadeus. „Ich bin, wie dir nicht entgangen sein dürfte, dein Konkurrent, aber eben nicht dein Feind. Deswegen werde ich nicht zögern, deinen geliebten Kohl in Bamberg dem Kunden madig zu reden, aber in den wichtigen Angelegenheiten kannst – nein, musst! – du mir vertrauen. Und diese ist eine davon.“
Enki verzichtete auf Widerworte. Er lies den Bruder stehen, oder zumindest wollte er das. Amadeus jedoch war noch nicht fertig mit dem Älteren. „Du bist genau wie unser Vater!“ rief er ihm nach, während Enki die Stiege hinabstieg. „Du denkst nur an dein Vergnügen, tust was du möchtest und bedenkst nie an die Konsequenzen! Gesegnet sei deine Mutter, dass sie von niederem Stand war, denn wenn du als der Ältere von uns beiden einst Graf von Bachental würdest, es bräche mir das Herz um die Grafschaft!“
Daraufhin hörte Amadeus eine Reihe ineinander übergehender Geräusche aus dem Treppenhaus: zuerst ein Zetern, dann ein Rumpeln, einige Schmerzenslaute und erneutes Zetern. Es war nicht schwer zu erraten, dass dort unten nun sein Bruder lag, der vor Überraschung eine Stufe verfehlt hatte. Doch härter als die Kanten der Holzstufen hatte den Herrn von Mühlingen hatten den Mann Amadeus Worte getroffen.
„Ich - wie unser Vater…?“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 29. Jun 2014, 01:23

„Und seit wann ist Vater eigentlich Graf?“ ergänzte der Spielmann unwillkürlich. „Und damit hochadlig? Baron… Baron von Bachental! So kenne ich das seit meiner Kindheit…“

Tut mir aufrichtig leid, ich habe da etwas durcheinandergebracht. Der alte Bachentaler sollte eigentlich ein Freiherr (oder hier in der Chronik auch als Baron bezeichnet) sein. Da sich niemand beschwert hat, gehe ich mal davon aus, dass euch derlei Hintergrundinformationen weniger wichtig als die eigentliche Geschichte um Mühlingen sind. Gehen wir also einfach davon aus, dass Enkis alter Herr im Zuge der (Wieder)Entdeckung des Kraftfutters in der Adelshierarchie aufgestiegen ist.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 29. Jun 2014, 01:23

Im Bauernhaus von Ottmar und Roswita saß der Hausherr am Tisch und blickte sein Weib in einer Mischung aus Trauer und Verwunderung an. Soeben hatte die Frau mit dem Schulzen aus dem Nachbardorf gesprochen und sich dabei gar lautstark über die Unsitte, Lederbälle zwischen den Dörfern hin- und her zu treiben, geäußert. Noch vor wenigen Wochen hatte Roswita allerdings nicht nur ganz anders gesprochen, sondern sich selbst – und das in ihrem fortgeschrittenen Alter! - ins Getümmel gestürzt. Wollte sie nun gar nichts mehr davon wissen?
Roswita jedoch lächelte. „Ottmar, mein Lieber, es braucht kein Zauberwerk, um deine Gedanken zu lesen. Ja, Saloniki und ich sprachen über Treibball. Ich gebe zu, ich war eine Närrin. Zuerst hat es ja auch ganz harmlos begonnen, mit ein paar jungen Burschen. Aber seit dieser Wettkampf ausgerufen wurde und die Arbeit darüber vernachlässigt wird, sehe ich das Spiel mit anderen Augen. Mit deinen.“
„Nein“, erwiderte Ottmar lächelnd. „Nicht mit meinen trüben alten. Mit deinen eigenen, wunderschönen. Komm, setz dich zu mir und vergib mir meine Unterstellung.“
Roswita tat das. Lange hielten die zwei nur die Hand des jeweils anderen. Es gab keine Kinder in ihrem Haus, es hatte nie den Wünschen des Herrgott entsprochen. Dafür hatte dieser ihnen den Enki ins Dorf gesandt, der teilweise ebenso unvernünftig wie eine ganze Stube voller Kinder sein konnte.
„Ich mag das Spiel übrigens immer noch“ gestand Roswita. „Sehr sogar! Nur wenn man etwas Gutes übertreibt, dann kann das nicht gesund sein.“ Sie erhob sich und Ottmar tat es ihr nach. Der Weg bis zur Bank vor dem Haus erschien ihm weit und beschwerlich, doch wollte er die Sonne begrüßen, bevor sie wieder versank.

Unterdessen kam Enki unter Salonikis kundiger Pflege kam wieder einigermaßen zur Vernunft. „Ach herrje, diesen Blick kenne ich“, meinte Enki. „Jetzt wirst du mir gleich sagen, dass du mich nur zum Wohle des Dorfes wieder aufgepäppelt hast, weil ich selbst es verdient hätte, noch ein bißchen zu leiden.“ Bevor der andere darauf eine scharfe Antwort geben konnte, nickte der Spielmann. „Und Recht hast du. Aber weißt du, unter uns, dass Amadeus mir langsam ein richtiger Bruder wird, das rührt mich mehr, als ich zugeben mag.“
Was der Ältere darauf zu erwidern hatte, führte Enkis endgültige Ernüchterung herbei.
„Du meinst also, hinter Amadeus freundlichem Gehabe steckt böse Absicht?!“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 30. Jun 2014, 17:03

Salonikis Antwort fiel gleichzeitig gut und schlecht für Enki aus. Schlecht, weil es absolut nicht das war, was der Freiherr hören wollte. Amadeus mochte tausendmal ein Adeliger sein, Enki WOLLTE seinen Freund in ihm sehen. Gut, weil der Ältere nicht nur Aussagen in den Raum stellte und erklärte, dies und das habe so getan zu werden, weil es immer so war und der verdammt noch mal zwanzig Jahre älter sei, sondern weil der Schulze seine Ansichten jedesmal nachvollziehbar begründete. „Ja, du hast Recht“, meinte Enki. „Ich merke selbst, wie mein anfängliches Misstrauen gegen Amadeus von Bachental zusehends schwindet, wie ihm immer mehr nachsehe, weil er mein Halbbruder ist.“
Doch Saloniki hatte noch einen anderen Punkt angesprochen, nämlich Enkis mögliche Erbe. Bisher hatte Enki stets geglaubt, dieses Erbe bestünde in dem kleinen Dorf, das er damals von seinem Vater erhalten hatte, als dieser ihn anerkannte. Jenes Dorf, dass er inzwischen gegen Mühlingen „getauscht“ hatte. Beim Tod des Bachentalers noch mehr zu erhalten, war dem Spielmann überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Gold vielleicht? Oder noch mehr Land? Womöglich am Ende ein zusätzliches Dorf? „Gott bewahre!“ stieß Enki hervor. „Das muss ich verhindern!“
Saloniki musste zuerst blinzeln, dann lachte er herzlich. Weniger über Enkis Worte, als vielmehr über die Art und Weise, mit der sie ausgesprochen wurden. Weil diese Reaktion wiedereinmal so typisch für den Spielmann war. Enki wollte nicht herrschen. Zwar, bisweilen tagträumte er davon, die Herrschenden allesamt abzusetzen, doch sich selbst sah er hinterher nie auf den nun leeren Thronen sitzen. Das wollte er schon Männern wie Ottmar und Saloniki überlassen, die nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch Interesse dazu mitbrachten.
„Nein, im Ernst, ich bin nun vorgewarnt und werde dafür Sorge tragen, mein Lehen nicht zu verlieren.“
„Wohlan, dann hör zu, wie du das auf die Reihe bekommst…“ begann Saloniki.
Was dann geschah, war schwer zu beschreiben. Beziehungsweise schwer zu verstehen und was man nicht verstand, konnte man auch nicht in Worte fassen. Enkis Nachbar schien davon auszugehen, nach einer Stunde im Dorf besser über die Zustände in Mühlingen Bescheid zu wissen, als die Mühlinger selbst. Nicht nur das, er glaubte offenbar ein im Chaos versinkendes Dorf vor sich zu haben. Der Nachbar bezeichnete die Büttel als Hampelmänner – vermutlich, weil er damals mit den nur kurz im Dorf stationierten Soldaten schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Der Kanal sei sinnlos, behauptete er weiter. Das war die Wahrheit, doch was hätten die Mühlinger sagen sollen? „Ach, nein Herr Graf, das wollen wir nicht, wir lassen das mal schön sein?“
Enkis Haus… natürlich sah es innen ärmlich aus. Sollte sich Enki womöglich auf Kosten des Dorfes bereichern und die guten Ahornmöbel, die hier hergestellt wurden, selbst aufstellen? Von außen gefallen musste sein Haus niemand. Zu schätzen wissen würden die Fassade nur ebenso verspielte Naturen wie Enki selbst (Dass seine Verspieltheit in den Augen anderer als Protz wirken musste, übersah er hier).
Und das Treibballspiel schien Saloniki noch mehr zu hassen als Enki und Ottmar zusammengenommen, denn das stellte er als Wurzel allen Übels dar. „Nun mach es mal halblang!“ wollte der Spielmann sagen. „Bei uns verrottet kein Korn auf den Feldern. Es fehlen gerade einmal zwölf Männer, die mit dem Ball zwischen den Dörfern unterwegs sind, vierundzwanzig Hände, die ich durch Tagelöhner ersetzt habe. Das einzige, was mich daran ärgert ist, dass ich das Gesindehaus während dieser Zeit nicht als Schule nutzen kann. Die Mühlinger nutzen ohnehin schon jede Ausrede, um ihre Kinder vom Unterricht fernzuhalten. Abgesehen von Franz natürlich. Es würde mich nicht wundern, wenn dessen Jüngster deinem Walther demnächst auf der Artistenschule Gesellschaft leisten würde.“
Doch stattdessen schwieg Enki, hörte zu und nickte. Saloniki war ein erfahrener Verwalter und Landwirt, von dem er viel lernen konnte. Da musste man ihm die eine oder andere Übertreibung nachsehen und ihm mit Höflichkeit und Respekt entgegenkommen.

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