Die Dorfchronik von Mühlingen

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 28. Okt 2013, 20:42

Der Ritt in die Stadt verlief ohne Zwischenfälle, was vor allem daran lag, dass der Grauling seinen Wald viel besser kannte als Meinrats Meute. Auf Schleichpfaden führte er Enki zu seinem Ziel, ohne dabei nenneswert Zeit einzubüßen. Zwar, ein ums andere Mal fürchtete Enki, von einem tiefhängenden Ast vom Pferd gestoßen zu werden, doch jedesmal ging es gut. Lange vor dem Stadttor blieb Gunther zurück. Enki war nun wieder auf sich allein gestellt.
Als erstes fielen dem Spielmann die vielen Bettler auf. Sie waren weitaus zahlreicher als in anderen Städten und in den meisten Fällen kurioserweise besser gekleidet.
Ich kann nicht allen helfen schoss es Enki durch den Kopf. Dazu trage ich nicht genug Geld bei mir. Nur versuchen musste er es und so drückte der Ankömmling einige Münzen in ihm entgegengestreckte Hände. Doch zu Enkis Überraschung kamen diese zurück – die Bamberger Kinder warfen sie ihm regelrecht an den Kopf! „Was sollen wir mit Geld, wenn es nichts zu kaufen gibt? Hunger haben wir!“
Jetzt erst ging Enki ein Licht auf. Er hatte es nicht mit Bettler, sondern bettelnden Bürgern, die teilweise wohlhabender als er selbst waren, zu tun.
Während er sich noch der Münzen erwehrte, rief jemand: „Lasst uns das Pferd nehmen! Daran sind bestimmt ein paar gute Stücke!“ „Ja!“ fiel ein anderer ein und ein dritter griff nach dem Zügel.
„Nein! Nicht!“ rief der Spielmann. Sein Reittier tänzelte unruhig, Männer- und Frauenhönde griffen nach dem Reiter und zogen ihn aus dem Sattel. „Lasst das arme Tier in Ruhe! Ihr bekommt, äh, Korn! Und Mehl!“
„Ach, doch nicht etwa aus Mühlingen?“ höhnte eine Frau. „Die waren die ersten und andere stehen kurz davor, es ihnen nachzumachen!“
Der Adel besaß Armeen, aber jeder niedergeschlagene Aufstand bedeutete zertrampelte Felder und getötete Arbeiter. Der auf Warenlieferungen aus dem Umland angewiesenen Stadt nützen solche Armeeeinsätze gar nichts. Die Bamberger wussten das nur zu gut, deswegen waren sie verzweifelt und Enki konnte sich den Mund fusslig reden, ohne etwas zu erreichen. Wer sich dem Mob schon nicht anschloss, schaute einfach weg. Am Ende musste der Ankömmling zu Fuß zur gräflichen Burg humpeln. Ohne Geldbeutel, Reittier und so zerrupft wie ein Landstreicher stand er dort vor den Gardisten.
„Ich muss da rein!“ warf Enki ihnen ohne eine Begrüßung entgegen. „Es ist höllisch dringend!“
„Kein Geld, kein Pferd und so schlechte Manieren, wie sie einem Untertanen nie einfallen würden – verarmter Adel, tät ich mal sagen“, meinte einer der Wachen gedehnt. „Könnt passieren.“
Enki machte, dass er durch die Pforte kam. Erst über der Schwelle drehte er sich um und setzte einen fragenden Blick auf.
Der Gardist lachte herzlich! „Natürlich lassen wir nicht jeden durch, der hier eine dicke Lippe riskiert! Aber Ihr tragt eine Uniform, Herr Offizier, wenn sie auch schon bessere Tage gesehen hat. Und keine gestohlene, sondern maßgeschneidert bis runter zu den Stiefeln. Sowas erkennt man in unserem Beruf.“
„Ach so!“ Enki fiel erleichtert in das Lachen ein. Dann wurde er auch schon vor den Grafen geführt, so eilig wie ein Feldpostbote, der Nachricht von der Front brachte. Denn wie der letzte Überlebende einer Schlacht wirkte Enki nach seinem Zusammenstoß mit den Städtebürgern.

Am Ende ging dann alles sehr schnell und überraschend unkompliziert. Die Anreise mit der Falle… nächtliche Spähtouren… die feurige Anke wie eine gemeine Verbrecherin verhören zu müssen… das Willensduell mit Gunther… sein treues Pferd, das sich gerade irgendwo in der Stadt in Salami und Ponywurst verwandelte… das Schicksal schien der Meinung zu sein, dass es der Abenteuer genug für Enki gewesen waren und der Spielmann sah das ähnlich.
Der Graf kündigte an, die Angelegenheit zu untersuchen und nahm auch den Marschbefehl für Leutnant Bachental zurück. Stattdessen sollten zwei gräfliche Beamte Enki zurück nach Mühlingen begleiten. „Wenn sich alles bestätigt, wie Ihr es berichtet, wird der Händler Meinrat acht Stunden an den Pranger gestellt und anschließend verbannt“, verkündete der Stadtherr.
„Mit Verlaub, mein Graf“, sprach Enki, „ich hätte ihn lieber unter Kontrolle. Sonst beginnt er sein übles Spiel in einer anderen Gegend von Neuem.“
„Wohl gesprochen. Dann also Kerkerhaft“, sprach der Graf. Dann beugte er sich auf seinem Polstersessel nach vorn. „Ihr aber, von Bachental, vernachlässigt nicht noch einmal Eure Ländereien so sträflich!“
„Aber… Mühlingen ist nicht… meine…“ stotterte Enki. „Ich soll nur mal Teile der Besitzungen meines Vaters erben… oder so…“
„Ab jetzt ist Mühlingen mit dem Ahornwald aber Euer Lehen, Bachental!“ donnerte der Graf. „Ihr werdet dort für Ordnung sorgen und ich will nie wieder etwas über Teufelsstatuen, Räuberpack oder marodierende Söldner dort hören!“
Enki trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Natürlich, zu irgendeiner übergeordneten Grafschaft musste ja auch die Baronie Bachental gehören. Zur selben, zu der auch Mühlingen als eine der kleinsten Verwaltungseinheiten zählte, wie er nun begriff. Bisher hatte er sich Enki dafür interessiert, wem sein Vater den Lehnseid geschworen hatte, nun war er schlauer. Wie Ottmar und Roswita wohl auf diese Neuigkeit reagieren würden? Wie würde es überhaupt in Mühlingen aussehen, wenn er zurückkehrte? Enki konnte nur hoffen, dass während seiner Abwesenheit die Zeit irgendwie zum Stillstand gekommen sei und nicht aus alles dem Ruder gelaufen war…
Vom Grafen erhielt er die Versicherung, dass man sich des Händlerproblems annehmen wolle. Die bürgerlichen Kaufleute nähmen sich ohnehin in jüngster Zeit zu viele Freiheiten heraus. Fehlte nur noch, dass sie gar nach politischer Einflussnahme strebten! Eine neue Steuer würde sie schon zurechtstutzen, eine, die es unprofitabel machte, mit zu großem Gewinn von einer Handelsreise aus dem Umland zurückzukehren. Enki aber sollte so schnell wie möglich nach Mühlingen zurück reiten und den Marodeuren die Verurteilung ihres Anführers verkünden.
(Enki kann das zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, aber der Graf hat sein Versprechen gehalten und den Händlern gehörig ins Gewissen geredet: viewtopic.php?p=620502#p620502 )

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 29. Okt 2013, 23:44

Mühlingen. Am nächsten Tag.

„Weißt du, ich werfe dem Jungen gar nicht mal vor, dass er sich damals abgesetzt hat“, meinte Ottomar zu seinem Weib. „So sind die Spielleut eben, sie schlagen nirgens Wurzeln.“ Der Bauer stemmte seine Fäuste in die Hüften. „Aber dass ers getan hat, ohne jemand Bescheid zu geben, ohne auch nur einen Abschiedsgruß, das werde ich ihm bis zum Ende vorhalten!“
„Und darüber hinaus?“
Ottomar antwortete nicht. „Noch in der Hölle!“ klang nicht mehr überzeugend im Angesicht des eigenen Endes. Die Pfarrer sagten, das sei normal, der Körper sei schwach und rede dem ihn bewohnenden Geist allerlei Ängste ein, unter denen dieser eigentlich gar nicht leiden müsste. Selbst der Herr habe am Kreuze gewünscht, der bittere Kelch möge doch an ihm vorbeigehen, in der Bibel könne man das nachlesen. Aber die gelehrten Herren waren nicht in diesem Moment hier, blickten der eigenen Sterblichkeit nichts ins Gesicht.
Sie waren ebensowenig an Ottomars Seite wie der flatterhafte Spielmann. Enkis Fortgang damals… Wieso spielte das jetzt eigentlich noch eine Rolle?
Die Truppen des Vogtes marschierten auf das Dorf zu. Meinrats Wilde Meute würde nicht gegen die Soldaten kämpfen. Ihre Aufgabe war ja erfüllt: Sie hatten als nur Köder gedient und Mühlingen in Verruf gebracht. Genaugenommen befanden sie sich nur noch im Ort, um die Bewohner an einer rechtzeitigen Flucht in den Wald zu hindern. Sobald es brenzlich auszusehen begänne, wollten sie sich zurückziehen. Zurück bleiben würden dann die Dörfler, die dem Ansturm nichts als verzweifelte Erklärungsversuche entgegenzusetzen hatten, die sich niemand anhören würde.

Auf der alten Römerstraße schwor der Hauptmann die Soldaten auf die bevorstehende Auseinandersetzung ein. Für die Bachentaler Landwehr war es die erste Schlacht, aber die Männer hätten nichts zu befürchten, wurde ihnen versichert. Was vor ihnen lag, sei kein Krieg, sondern eine Strafexpedition. Kein Mann über fünf Sommern durfte entkommen und die Jüngeren und die Weiber durften es zwar, brauchten es aber nicht.

Wenige Stunden später näherten sich Enki und die beiden Beamten in gestrecktem Galopp dem Dorf. Schon von weitem hörten sie das Waffengeklirr und der Wind trug den beißenden Rauch zu ihnen, der vom Sägewerk aufstieg. Die Holzvorräte der Schreinerei standen lichterloh in Flammen, von den gelagerten Fässern und Ahornmöbeln gar nicht zu reden.
„Wie kann das sein? Wer hat da den Angriffsbefehl erteilt, wenn ich doch in Bamberg war?“ ächzte Enki. Des Rätsels Lösung offenbarte sich, als der Spielmann den Kommandanten der angreifenden Truppen auf einem Hügel stehend gewahrte. Der Mann des Vogtes trug die Abzeichen eines Hauptmannes und ein solcher stach einen Leutnant in der Befehlsgewalt natürlich aus.
Die Rauchsäule über dem Sägewerk bewegte sich in Richtung Gesindehaus und Kutschenstation. In den beiden Gemäuern mit ihren Steinfundamenten würden die Dörfler Schutz gesucht haben, denn über eine eigene Kirche verfügte Mühlingen nicht.
Dem Feuer ausgeliefert oder in die Klingen der draußen postierten Soldaten laufen – weitere Optionen exisstierten nicht für die Eingeschlossenen.
„Nein! Nein, so darf es nicht enden!“
Enki kniff die Augen zusammen. Er wollte nicht sehen, was weiter geschah. Das Krachen des einstürzenden Daches des alten Gesindehauses wenig später sagte ihm bereits genug.

So entging dem Spielmann allerdings auch, was sich kurz vor dem Einsturz abgespielt hatte:
Eine kleine Gruppe Männer war wie aus dem Nichts im Dorf aufgetaucht und hatte die Soldaten völlig durcheinandergebracht. Angeführt wurden die Scharmützler von Gunther dem Grauling – oder Guntram von Sachsen, wie er dereinst gehießen hatte. Sogleich, nachdem er Enki durch den Wald geleitet hatte, war er umgekehrt und hatte einige Getreue um sich geschart, Männer und Frauen, denen er in den vergangenen Jahren geholfen hatte.
Dieser Guntram nun verstand ebensoviel, wenn nicht mehr, von Taktik als der Hauptmann der Soldaten. Seinen Männern war es gelungen, die Angreifer durch geschickte Ablenkungsmanöver vollständig von der Rückwand des Gesindehauses fort zu locken. Unter den kräftigen Schlägen des Zimmermannes zerbarst das Holz und die Eingeschlossenen stürmten ins Freie, gerade noch rechtzeitig, bevor hinter ihnen alles zusammenkrachte. Sie liefen über das Kohlfeld, auf dem die nicht eingebrachte Ernte verfaulte, in den Wald hinein.
Befreit lachende Mühlinger eilten neben unkontrolliert schluchzenden und allen Facetten, die zwischen diesen beiden Extremen lagen, an Enki und seinen Begleitern vorbei. Falls sie die kaiserliche Uniform erkannten, so schenkten sie dieser keine Beachtung, da die drei Berittenen nicht die Waffen gegen sie erhoben.
Enki öffnete die Augen, als ihn etwas an seinem Bein strefte. Das „Etwas“ stellte sich als ein Knabe von acht Jahren heraus. Das Kind taumelte, blutete aus einer Wunde an seiner Wange und sein Wams war angekokelt, aber es lebte.
„Sie leben alle?“ stammelte Enki. „Sie sind gerettet?“
„Nicht alle“, hörte er die tiefe Stimme des Müllers, Franz, eines der ältesten Dorfbewohner. „Ottmar und Roswita habens nicht aus dem Haus geschafft. Sein Fuß ist verletzt und sie wollte nicht ohne ihn mit uns fliehen.“
„Aber sie sind am Leben?“ vergewisserte sich Enki.
Franz zuckte die Achseln. „Wofür immer das gut sein mag. Es bräuchte schon einen todessehnsüchtigen Narren, um in das Inferno reinzugehen und die beiden da rauszuholen.“
Enki schluckte hart. Die Mühlinger liefen weiter, in den Wald hinein. Doch dort lauerten ohne Zweifel noch immer Meinrats Söldner auf sie. Unten im Dorf wüteten die Soldaten. Die Ruine des Gesindehauses brannte lichterloh und irgendwo im Inneren steckten die beiden Dorfgründer fest…

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 30. Okt 2013, 19:22

Unterdessen befanden sich die Kundschafter Peter und Johann im Zeltlager. Der Hauptmann hatte die beiden als Wachen zurückgelassen, die sowohl auf die Marschausrüstung als auch auf die Gefangene aufpassen sollten. Sie vertrieben sich die Zeit mit kleineren Lederarbeiten. Peter reparierte gerade die Riemen eines Tornisters und Johann saß daneben, die Fingerfertigkeit des zierlichen Soldaten bewundernd. Als er die prüfenden Blicke Ankes auf sich ruhen spürte, drehte er sich um, lief rot an und rückte von seinem Kameraden ab. Das wiederum irritierte Peter. Er warf dem anderen einen „Hab ich was falsch gemacht?“-Blick zu und legte seine Arbeit unvollendet beiseite.
Johann gab den Blick – um einiges schärfer – an Anke zurück, woraufhin Peters Ausdruck zu einem „Was will er denn von DER? Und außerdem ist das das Liebchen vom Leutnant, der weiß es bloß noch nicht“ wechselte. Kurz gesagt, auch ohne Waffengeklirr herrschte KRIEG im Feldlager.
In dem Bemühen, die Lage zu entschärfen, holte Johann ein Bündel Buchseiten unter seinem Kittel hervor. Sie dienten ihm als behelfsmäßige Polsterung, die im Gegensatz zu einem Lederwams die Beweglichkeit nicht einschränkte und gleichermaßen als Notbehelf, wenn sich man mal während der Wanderung hinhocken musste und keine breiten Blätter zu finden waren. Schließlich hatte beherrschte er sogar die Lesekunst gut genug, um den Papierchen ein wenig Unterhaltung abzugewinnen.
Peter und sogar Anke entspannten sich, als Johann vorzulesen begann:

Der Eber von Hal o´ Wien

Hal von Wien war ein Zauberer, ein Schwarzkünstler. Schon sein Vater hatte sein Leben der Gelehrsamkeit verschrieben, doch als der fromme Mann, der er war, respektierte er stets die natürliche Ordnung der Welt. Oftmals gab ihm der Teufel ein, doch diesen oder jenen Gedanken weiterzuspinnen, er würde zu großem Wohlstand und Ansehen führen. Doch Hals Vater widerstand jeder Versuchung.
Als er nicht mehr war, studierte Hal die Aufzeichnungen seines Vaters gründlich. Sein Drang nach Wissen kannte keine Grenzen. Er führte alles zuende, wovor sein Vater zurückgeschreckt war. Mensch und Tiere dienten ihm gleichermaßen als Material für seine erschröcklichen Experimente.
Eines Tags weigerte sich einer seiner Gehilfen, einen Brei zu essen, den Hal aus geheimen Kräutern zusammengekocht hatte, um zu beobachten, wie er wohl wirken würde. Kurzerhand verwandelte der Hexer den unwilligen Knecht in ein Schwein. „Ei, jetzt wirst du schon brav alles fressen, was ich dir hinstelle“, lachte der Hexer.
Und so geschah es auch. Viele Monate ließ sich das Schwein jede Medizin füttern – bis es den Drang fühlte, zu tun, was Eber eben tun, damit es bald gar viele Ferkel habe, die uns zur Speise dienen können. Die Ferkel, die der Eber, der ja eigentlich ein Mensch war, mit einer Sau zeugte, waren größer, klüger und vor allem gemeiner als normale Hausschweine. Bald schon liefen sie auf zwei Beinen und so sie auch nicht sprechen konnten, verstanden sie doch jedes Wort, das man zu ihnen sprach…

An dieser Stelle fehlten Seiten, was in erster Linie den Folgen der schlechten Kochkünsten des Feldkochs im Ausbildungslager zu verdanken war. Johann fluchte leise. „Gerade, wo es spannend wird.“
Die Geschichte setzte an dem Punkt wieder ein, an dem der aus Wien verbannte Hexer in einer verlassenen Mühle Zuflucht fand und seinen Kreaturen die Freiheit schenkte.
Johann wollte schon „Und wenn er nicht gestorben ist“ sagen, als ihm auffiel, dass die nächste Seite ebenfalls noch zu der Sage gehörte. Sie enthielt keinen Text mehr, sondern eine Zeichnung des Zauberers, wie dieser die Schweine in den nahen Wald entlies.
„Öhm… das seht ihr euch besser mal an…“ sprach Johann mit belegter Stimme.
Anke und Peter traten näher. Ohne einen weiteren Kommentar hielt ihnen Johann die Buchseite vor die Nasen. Doch was sie dort sahen, unterschied sich nicht von der Umgebung, in der sie sich befanden. Dieselbe Pflasterstraße, die sanften Hügel und der Wald fanden sich auf der Zeichnung wieder, mit dem einzigen Unterschied, dass das Bild mehr Eichen und nur vereinzelte Ahornbäume zeigte. Ansonsten aber stimmte jedes Detail mit der Wirklichkeit überein. Die Wassermühle mit dem Fischteich am Fuße des höchsten Hügels, der Bach, dessen Lauf heute noch zu erahnen war, ja, jeder Findling, der zu groß war, um als Baumaterial zerkleinert zu werden, lag am rechten Platz, als habe der Zeichner just an diesem Ort hier gesessen.
„Das hat nichts zu bedeuten“, wagte Peter zu sagen, nachdem die drei sich lange angeschwiegen hatten. „Derjenige, der die Sage illustriert hat, na, der hat sich eben Mühlingen als Vorlage gewählt, als er die Zeichnung machte. Das bedeutet aber nicht, dass sich hier mal ein Zauberer niedergelassen hat!“
„Hehe, ja, so ist es gewiss“, lachte Anke, wenngleich ein wenig unsicher. „Monsterschweine gibt es doch gar nicht!“

Bleibt abzuwarten ;)

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 6. Nov 2013, 16:05

Und wieder bei Enki und den Flüchtlingen:

Enki drehte sich hektisch im Sattel hin und her. Den kaiserlichen Soldaten entronnen mochten die Mühlinger immer noch unter den Knüppelschlägen der Söldner ihr Ende finden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit im Wald lauerten. „Du…“ er wandte sich an den ersten der beiden gräflichen Beamten, die ihn begleiteten, „klärst den Hauptmann darüber auf, dass er aufzuhören hat, Mühlingen kurz und klein zu schlagen! Und du…“ …dabei deutete er auf den zweiten Beamten… „…bringst den Narren im Wald bei, dass ihr Anführer eingekerkert wurde und sie niemand für ihr Mordwerk bezahlen wird!“
Mit diesen Worten gab der Spielmann seinem Pferd die Sporen. Zurück blieben zwei verdattert dreinschauende Beamte. Der erste ritt Enki nach in Richtung „Feldherrenhügel“, um seinen Auftrag auszuführen. Der zweite seufzte vernehmlich angesichts der Aufgabe, die er erhalten hatte. Warum stürze ich mich nicht gleich vom Pferd, schimpfte er vor sich hin. Läuft auf dasselbe hinaus und geht schneller. Immer, wenn die hohen Herren glauben, einen wundervollen Einfall zu haben, muss usnereins es ausbaden. So ein! Elender! Weltfremder! Künstler!

Der elende weltfremde Künstler erreichte das Dorf. In einer Mischung aus Fallen und Springen aus dem Sattel kam Enki auf dem Boden auf. Im Laufen benetzte er ein Tuch mit dem Wasser aus seiner Feldflasche und band es sich um den Mund. Bereits nach wenigen Schritten befand er sich inmitten des Qualms, der von den drei brennenden Gebäuden ausing. Es war beinahe unmöglich, weiter als eine Armeslänge zu sehen. Ruß setzte sich auf Enkis teurer Uniform ab und der nasse Lappen würde seine Lungen nicht lange vor dem Rauch schützen können.
Trümmer erschwerten Enki das Vorankommen. Umherfliegende Funken drohten seine Kleidung in Brand zu setzen. Sein Verstand schalt Enki, dass er umkehren solle, doch er zwang sich, weiterzugehen und in die Ruine des Gesindehauses einzudringen.
Ein Schritt, zwei, drei… Enki hörte ein Knacken über seinem Kopf und dann krachte ein brennender Dachbalken direkt neben ihm zu Boden. Der Spielmann warf sich zur Seite. Die Dielen splitterten unter dem Gewicht und hölzerne „Klingen“, so scharf wie ein Säbel, schlitzten dem Mann die Hose und die Haut des linken Unterschenkels auf. Glücklicherweise ging die Wunde nicht tief und mit mehr Glück als Verstand fand Enki endlich Ottmar, der im hinteren Teil des Hauses unter einem Trümmerhaufen wie begraben lag. Der Mann befand sich schon kaum mehr bei Bewusstsein.
Sein Schwert als Hebel benutzend, befreite Enki Ottmar aus seiner Klemme. Jeder Atemzug schmerzte in der heißen Luft, doch atmen musste Enki, umso mehr, da er sich anstrengte. Ob er einen Toten oder einen Lebenden hinter sich herschleifte, als er das Gesindehaus wieder verließ, vermochte er nicht zu sagen.
Irgendwann merkte er, dass er seine Last nicht allein tragen musste. Jemand packte mit an. Durch den Qualm meinte Enki, ein weibliches Gesicht zu erkennen.
„Roswita?“
„Er… er hat mich fortgeschickt…“ schluchtzte die Frau. Enki nickte im ersten Reflex. Natürlich würde Ottmar nicht gewollt haben, dass seine Frau mit ihm stürbe! Und Roswita hatte auch nicht in seinen letzten Momenten mit ihm streiten wollen. Also war sie geflohen, aber nicht weit gekommen, sondern hatte sich außerhalb des Gesindehauses versteckt, unfähig, ihren eingeschlossenen Gatten zu verlassen, aber zu schwach, um ihn zu befreien.
Nur stumm zu beten war ihr noch gegeben gewesen und der Himmel hatte sie ja auch erhört und einen Retter gesandt. Einer der Dörfler war also umgekehrt, um ihr beizustehen. Wer es wohl sein würde? Franz? Waldemar? Am Ende womöglich gar Anke, denn die Kuhhirtin war ja ziemlich kräftig? Roswita kniff die Augen zusammen.
„Enki?!“ entfuhr es ihr. In der ersten Überraschung trat sie einen Schritt zurück.
„Wah! Nicht loslassen!“ rief Enki. „Ich kann nicht… nicht alleine…!“
Sein verletzter Fuß pochte irgendwie ungesund, sein Kopf schmerzte, die Lungen schrien ohnehin schon seit langem und böse Zungen hätten behauptet, dass die Rettungsaktion mittlerweile in härtere Arbeit ausartete, als der Spielmann tolerieren konnte.
Gemeinsam packten sie an und wenn Ottomar auch seine gebrochenen Beine nicht belasten konnte, so schaffte er es doch irgendwie, sich wenigstens so leicht wie möglich zu machen.
So schleppte sich das Trio aus der Gefahrenzone.

Am Dorfrand brachen die drei zusammen. Sie husteten und keuchten und nahmen den jeweils anderen kaum wahr. Roswitas Hand tastete nach Ottomars. Die ihre zitterte, seine lag nur schlaff in der seines Weibes. Tränen rannen Roswitas Gesicht herunter. Ihr Mann lebte, dafür musste sie dankbar sein. Wozu er in Zukunft noch in der Lage sein würde, musste sich erst zeigen.
Ottomar blinzelte. Er meinte, ein vertrautes Gesicht zu erkennen: Enki den Spielmann, dem jemand einen Knebel vor den Mund gebunden hatte. „Gute Idee…“ dachte der Mann bei sich. Dann musste er darüber lachen, in seiner Lage ausgerechnet einen geknebelten Enki zu halluzinieren. Doch es schmerzte und Ottomar wand sich unter Qualen.
Roswita schmiegte sich fest an ihren Mann. Sie war echt, ohne Zweifel, und so ziemlich das Einzige in seiner Umwelt, das real für den Geretteten war.
Neben den beiden hockte Enki. Er zog das Mundtuch vom Gesicht und beobachtete, wie die letzten Strukturen des Gesindehauses, der Zimmerei und des Sägewerks endgültig in sich zusammenstürzten.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Do 7. Nov 2013, 01:05

Mühlingen.
In der Nacht nach dem Kampf um das Dorf.

Der Mond stand über dem Land und spiegelte sich hell und klar im Mühlteich. Doch, nein, irgendwie sah er heute anders aus als sonst. Hatten sich da nicht ein paar matschige Flecken in die Scheibe eingeschlichen? Wer mehrfach hinsah, erkannte, woran es lag: Der Teich war beinahe leer, gerade noch so viel Wasser, dass die Forellen darin schwimmen konnten, bedeckte den Boden. Und noch etwas fiel dem Betrachter auf: Der Mond stellte derzeit die einzige Lichtquelle dar - das bedeutete, die Flammen waren verloschen!
Die Bachentaler Landwehr und die Soldaten des Vogtes, die den Brand überhaupt erst gelegt hatten, waren den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, zu verhindern, dass er sich auf die restlichen Häuser ausbreitete. Nicht immer war das gelungen und so manches geliebte Erinnerungsstück war den Flammen zum Opfer gefallen, doch die wichtigsten Gebäude, jene, die zum Erwirtschaften des Lebensunterhaltes nötig waren, standen noch. Selbst das in Panik geratene Vieh war zum großen Teil wieder eingefangen worden.
Die Krise hatte demnach zwar kein gutes Ende genommen, aber auch bei weitem kein schlechtes.

In den noch intakten oder nur leicht beschädigten Häusern ließen es sich die Überlebenden gut gehen. Dankbar über ihre unverhoffte Rettung bedienten die Mühlinger ihre Angreifer mit dem Wenigen, das ihre voratskammern noch hergaben.
„Und dann hat der Herr Leutnant gesagt, ‚geh in den Wald und rede mit den Söldnern!’“ wiederholte der Beamte aus Bamberg vor jedem, der es hören wollte oder auch nicht.
„Und? Was habt Ihr getan?“ erkundigte sich Johann der Kundschafter, der ja nicht an dem Scharmützel beteiligt gewesen war, neugierig.
„In den Wald gegangen natürlich – und dabei gebetet!“ gab der Bamberger Auskunft. „Es war genau, wie wir erwartet hatten, die Meute hatte sich dort versteckt, um Flüchtlingen den Weg abzuschneiden. Aber wie ich noch überlege, wie ich mit heiler Haut aus der Misere rauskomme, da taucht so ein Mordsvieh von Eber auf, pechschwarz, mit dichtem Fell. Der schaut mich an, als verstünde er, was sich gerade abspielte, dann dreht er sich um und hast du nicht gesehen tobt er mitten in die Marodeure hinein! Das hat sie dermaßen verängstigt, dass sie sich leicht gefangennehmen ließen.“ Der Mann schaute Johann prüfend an. „Du glaubst mir nicht, stimmts? Aber so wahr der Herr mein Zeuge…“
Johann schüttelte den Kopf. „Ich glaube Euch“, erklärte er. „Ich wünschte nur, ich müsste es nicht.“
„Wieso?“
Ein zweites Kopfschütteln vermittelte dem Beamten, dass er keine Antwort erhalten würde.

In Roswitas und Ottomars Haus herrschte eine ähnlich gedrückte Stimmung. Enki, der Hauptmann, Weibel Karl und der kaiserliche Postmeister, der die Kutschenstation betrieb, zusammen. Lediglich für den tapferen Gunther stand kein Schemel bereit. Der Lohn des Verbannten für seine Hilfe bestand darin, dass der Hauptmann „vergaß“, ihn gesehen zu haben und ihm freien Abzug gewährte. Enki fehlte die Kraft, auch nur einen bissigen Kommentar zu dieser – in seinen Augen – Ungerechtigkeit abzugeben. Es hätte nur wieder Unfrieden geführt.
Mittlerweile waren sämtliche Missverständnisse aufgeklärt und man sprach darüber, die Station und alle anderen Verluste wieder aufzubauen. Niemand wagte zu spekulieren, wovon…
Roswita saß unterdessen in der Schlafkammer bei ihrem Mann. Ottomars Atem kam in kurzen Stößen und von fauchenden Geräuschen untermalt. Daran würde sich wohl nie wieder etwas ändern. Zudem war der Mann davon überzeugt, an Fieberträumen zu leiden, denn er meinte, gerade Enkis Stimme aus der Stube unten zu hören. Roswita strich ihm dann jedesmal sanft über die Stirn und Wangen und erklärte, das werde sich geben, wenn er ersteinmal eine Nacht geschlagen habe. Auf gar keinen Fall wollte sie dem Gatten in dessen Zustand eröffnen, dass der Spielmann tatsächlich in ihrem Haus zu Gast war.

So schritt die Nacht voran und als es gerade hell wurde, war das Rumpeln eines Wagens auf dem Lehmweg zu vernehmen.
„Das kommt von der anderen Seite der Grenze, Richtung Freidorf“, stellten Johann und Peter, die am Dorfeingang Wache hielten, fest. „Wer mag das wohl wieder sein?“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Do 7. Nov 2013, 21:33

Sein Name lautete Johann, Nachname unnötig. Vor wenigen Stunden hatte er eine verstörende Entdeckung in einem alten Buch gemacht. Seine Kameraden hänselten ihn, weil er die „Schlacht“ um Mühlingen verpasst hatte. Dann war da noch der zierliche Peter, der in ihm dieselben Beschützersinstinkte weckte, als hätte man eine Jungfrau in eine Uniform ggesteckt und das konnte nur von Sünde sein! Kurz und gut, Johann hatte alles gründlich satt und ließ seine Laune an den Fremden aus, die da mit ihrem Karren die Straße entlang kamen. Barscher als nötig fuhr er sie an, hier ginge es nicht weiter, sie sollten umkehren. Doch die Ankömmlinge ließen nicht locker. Immerhin befand sich der Schultheiss von Freidorf unter ihnen und, Waffe hin und Uniform her, der ließ sich nicht einfach so herumkommandieren.

Peter rannte ins Dorf zurück zum Bauernhaus, um die Ankunft der Freidorfer zu melden.
„Saloniki!“ entfuhr es Enki.
Weibel Karl horchte auf. „Noch ein Feind?“
Der Hauptmann und Enki schüttelten gleichzeitig den Kopf.
„Eine gute Seele, eine der besten“, erklärte Enki. „Er und ich sehen die Welt mit völlig verschiedenen Augen, was bisher stets von Segen war. Einmal hat er mir gesagt, für einen Spielmann sei ich erstaunlich ortstreu… nun ja, ich denke, dieser Punkt hat sich mittlerweile erledigt.“
Der Hauptmann beobachtete, wie Enkis Pferd gesattelt wurde und der Mann aufsaß.
„Mit Verlaub, Ihr erweckt den Eindruck eines Lehrlings, der gleich von seinem Meister gemaßgeregelt wird“, meinte er. „Dabei steht dieser Mann so weit unter Euch!“
Enki ließ sich auf keine Diskussion ein. Er nickte nur unverbindlich und ritt in Richtung Ortseingang. Was er darstellte, wusste er selbst nicht so recht. Eines Barons jüngerer Sohn, nicht mal der alleinige Erbe. War er als der neue Herr über Mühlingen jetzt ein Ritter? Ein Edelmann? Irgendeine Bezeichnung würde es in der Ständepyramide schon für ihn geben, doch Enki kannte sie nicht. Er ritt weiter, bis er neben Johann zu stehen kam (und schickte ein Dankesgebet an den Herrn, dass das Pferd auch tatsächlich brav anhielt). Von seinem erhöhten Blickpunkt aus sah er die Decken, Körbe und Säcke, die die Freidorfer auf dem Wagen mitführten. Wollten sie Handel treiben oder sollten das womöglich Geschenke sein?
„Einer der Allerbesten“, flüsterte Enki gerührt zu sich selbst.
„Wohlan, ich, äh, bin En… Enno-Kilian von Bachental, der, öhm, neue Herr von Mühl… ingen“, sprach er die Freidorfer an. Jetzt lachen sie bestimmt… und damit käme ich noch gut weg. „Ihr wün… Was führt Euch nach Mühlingen?“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 10. Nov 2013, 01:09

Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, begriff Enki, dass es die falschen gewesen waren. Doch da war es bereits zu spät. Der Nachbar schien seine Unsicherheit und das Stottern überhaupt nicht wahrgenommen zu haben. Bei ihm waren sie als Standesdünkel angekommen und ein kurzes Wortgefecht später wendeten die Freidorfer ihren Wagen, um dorthin zurückzukehren, woher sie gekommen waren.
„Den wären wir los“, meinte Johann. „Was bildet der sich eigentlich ein, so mit Euch zu reden?“
„Das sagt mir der Richtige!“ fuhr Enki den Soldaten an. „Siehst doch selbst nicht, was direkt vor deiner Nase ist und sowas nennt sich Kundschafter! Es gibt da ein Mädchen namens Petra, das sich jeden Abend nach ihrem schmucken Kriegsmann verzehrt, aber der ist einfach nur blind!“
Johann stand wie vom Donnerschlag getroffen, als sich die Puzzelteile ineinander fügten.
Enki saß ähnlich reglos im Sattel und starrte Saloniki hinterher.
„Er hatte Hilfsgüter dabei, Johann. Aber wegen mir ist er wieder umgekehrt. So sehr am Herzen liegen unseren Nachbarn die Menschen hier scheinbar doch nicht, wenn sie ihnen den Rücken zukehren, nur weil sich ein einziger Mann mal im Ton irrt. Vielleicht würden sie Mühlingen helfen, wenn ich wieder ginge, aber das kann ich ja nicht, weil der Graf mir den Ort überantwortet hat. Das ist eine verfluchte Welt, in der wir leben. Was einem am Herzen liegt, verwandelt der Teufel in die Waffe, die am härtesten trifft.“
„Herr, an Euch ist ein Dichter verloren gegangen!“ erklärte Johann.
„Wahrlich, und ich tät ihn ganz gern wiederfinden“, erwiderte Enki.
Johann druckste ein wenig herum, ja, es schien, als müsse er sich an seiner Pike festhalten, um den Mut zu finden, auszusprechen, was ihm durch den Kopf ging. Enki musste mehrfach aufmunternd nicken, bevor der Gemeine erklärte: „Ihr könntet ja in Freidorf mit der Suche anfangen. Nicht als unser Leutnant, sondern als dieser Enki. Zu Fuß und so, wie der König Heinrich damals nach Canossa gegangen ist. Wisst Ihr noch? Diese Ballade habt Ihr einmal im Ausbildungslager vorgetragen.“
„Zu Fuß klingt gut“, murmelte Enki, auf sein Ross herabblickend. „Aber nachlaufen und betteln? Nein…“
Johann nickte erleichtert. Sein Vorschlag war ihm ja selbst verrückt vorgekommen. „Das hat ein Edelmann wirklich nicht nötig!“
Enki seufzte. Er blickte zurück in Richtung des Dorfes und dann wieder nach vorn, dorthin, wo sich der Wagen der Freidorfer entfernte. Ein Reiter würde ihn mühelos einholen können, ein rennender Mann mit einiger Anstrengung ebenfalls. Wohin sollte sich Enki von Bachental wenden? Hohes Ross oder die Straße, Mühlingen oder Canossa…?

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 12. Nov 2013, 01:58

Enki wusste es nicht, aber während er grübelte, wurde auf dem Wagen über ihn und den Soldaten gesprochen. Saloniki hatte eine treffende Bezeichnung für Johann und seine Waffe gefunden – glücklicherweise konnte der Soldat auch diese nicht hören.
Zuerst sah es aus, als fiele der Spielmann vom Pferd, doch dann war es doch nur ein Absteigen. Wie vom wilden Affen gebissen rannte Enki los, auf die Freidorfer zu. Deren Wagen hatte inzwischen gehalten. Enki wusste nicht, ob absichtlich oder nicht, er wollte einfach glauben, dass es Absicht war, aber er tat so, als wisse er es nicht, als die worte nur so aus ihm heraussprudelten:
„Stimmt was nicht mit eurem Wagen? Ich könnte euch helfen, ich habe immer gute Ideen, und die Leute sind hinterher sehr dankbar, weil sie dadurch wissen, wie sie´s NICHT anpacken müssen…“ Enki holte tief Luft. „Hölle und Verdammnis, Saloniki, ich bin da in etwas hineingeraten, das mir völlig über den Kopf wächst. Es gäbe auch eine wundervolle Geschichte ab, steckte man nicht selbst mitten drin.“ Der Spielmann schluckte. „Kannst du den Narren Enno-Kilian übersehen und mit Enki nach Mühlingen mitkommen? Uns ist das halbe Dorf abgebrannt und wir wissen nicht, ob Ottomar jemals wieder mehr tun kann, als aus dem Bett zum Stuhl zu wanken… Ich hätte nicht gedacht, dass ihr überhaupt wisst, was bei uns los ist und da steht ihr schon mit Decken und Essen an unserer Tür. Das ist so viel mehr, als ich in den letzten 10 Jahren für das Dorf getan habe… Das tut mir leid.“
Enki hätte sich nie träumen lassen, wie sehr in die Mühlinger brauchten – oder er sie.
Er spürte die Blicke der Freidorfer auf sich ruhen. Einer von ihnen, ein dicker Mann, dessen ganze Erscheinung sofort „Gastwirt“ schrie, runzelte die Stirn. Es schien ihm nicht zu behagen, was der Baronsspross da von sich gab und vor allem nicht, wie er es tat. Andererseits versuchte der Wirt bereits einzuschätzen, wie er diesen Mann um seinen fetten Finger wickeln konnte. Jeder hatte eine Schwachstelle…

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 13. Nov 2013, 00:24

Mein neuer bitte was?! dachte Enki bei sich, als Saloniki ihm den fetten Wirt anempfahl, und dann: Das ist dann wohl die himmelsgesandte Strafe für mein Herumstreunen.
Recht betrachtet fehlte Mühlingen tatsächlich noch ein Wirt. Küche, Backhaus, Räucherei und Winzerei wurschtelten jeder so vor sich hin und oftmals blieb es an den Männern von der Kutschengesellschaft hängen, die einzelnen Betriebe zu koordinieren, damit die Reisenden am Ende eine Mahlzeit auf den Tisch bekamen. Sie würden es sicher begrüßen, wenn ihnen jemand die Arbeit abnahm.
„Also gut, ich versuche es mit dem Mann“, erklärte Enki, ohne den hinter ihm sitzenden Gemeinen anzusehen. War ja unter seine Würde, nicht wahr? „Dieser Adelsanbeter wird mir als Prüfstein dienen. Wann immer er mit mir zufrieden ist, weiß ich, ich habe was falsch gemacht!“ flüsterte er Saloniki zu. Dieser murmelte etwas, das verdächtig nach „Und schon wieder die große Klappe…“ klang.

Wer dann aber seine Klappe noch weiter aufsperrte, war der Gastwirt. Kaum in Mühlingen angekommen, versuchte er bereits, sich nützlich zu machen, worunter der das Herumkommandieren und eine gehörige Portion Besserwisserei zu verstehen schien.
Enki sprang vom Wagen. „Aber sicher werden die Freidorfer die Handlanger für die Mühlinger spielen“, meinte er von oben herab. „Und wir werden auch deren Holz für unseren Wiederaufbau nutzen, ohne zu bezahlen.“
„Fein!“ Der feiste Wirt rieb sich die Hände. „Fein, fein!“
Enki legte eine Kunstpause ein, dann brüllte er: „Schon vergessen, dass Freidorf auf der anderen Seite der Grenze liegt? Wagst du Wurm es, mich als einen Räuberbaron darzustellen?! Bin ich das in deinen Augen? Hast du eine Ahnung, was der Bachental-Clan mit Leuten tut, die ihre Ehre anzukratzen wagen?“
Lieber würde ich ihm sagen, dass man keine anderen Menschen ausnutzt. Die Freidorfer sind freiwillig zu unserer Hilfe gekommen und er wagt, sie so schändlich ausnutzen zu wollen. Aber das würde er nicht verstehen. Drohnungen. Machtspiele. Diese Sprache versteht dieser Mann besser. Oh Gott, gib, dass ich nicht zu großen Gefallen an Auftritten wie gerade eben finde!
Mehrere Zentimeter geschrumpft und unter vielerlei Verbeugungen wich der Gastwirt vor Enki zurück. „Tisch unseren Gästen etwas auf, aber dalli!“ rief ihm Enki nach.

Die Mühlinger empfingen ihre Nachbarn erfreut, wenngleich ihre Überschwenglichkeit auch durch das hinter ihnen liegende gedämpft wurde. Doch man war nicht gelähmt, sondern bereit, anzupacken und das Dorf neu aufzubauen.
Der neue Gastwirt ließ es sich nicht nehmen, für den Herrn Ritter Bachental und die fleißigen Helfer seine beeeesten Pfannkuchen nach uuuuuraltem Familienrezept zu braten. Während er Zubereitung wurde aus dem Ritter ein Baron, dann ein Graf und am Ende musste Enki den Mann mit einem scharfen Blick zum Schweigen bringen, denn sonst wäre noch der neue König aus ihm geworden. „Wie Ihr wünscht, euer Gnaden, so schweige ich“, meinte der Wirt mit einer Verbeugung und dann schwieg er wirklich.
„Butter braucht der keine in die Pfanne tun, die Schleimspur reicht aus!“ bemerkte Roswitha spitz.
Enki grinste. Dann ließ er sich von Petra (oder Fährtenleser-Peter, wie sie von allen genannt wurde, die es nicht besser wussten) seine Laute bringen. Jeder erfüllte seine Pflicht und die eines Spielmannes bestand darin, den anderen Menschen Mut zu machen, ihnen die Kraft zu schenken, weiterzumachen, wie es sonst nur dem Pfarrer gegeben war. Egal, wie es in ihm aussah, diese Aufgabe hatte ein Musikant zu erfüllen. Enki stimmte sich auf die Menschen ein, versuchte ihre Stimmung einzufangen und in eine Melodie umzusetzen. Die ersten Töne erklangen, da spürte der Spielmann eine Hand auf seiner Schulter ruhen, fest und rau, eine , die harte Arbeit gewohnt war, aber gleichzeitig weiblich… „Pling!“ machte die Laute, als ihr Spieler erschrak. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, zu wem die Hand gehörte…

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Do 14. Nov 2013, 00:27

"Spiel weiter..."
Ankes Stimme.
"Spiel bitte einfach weiter."
"Ich..." Die Andeutung eines Kopfdrehens.
"Bitte!"
Also spielte Enki die Laute und Anke stand die ganze Zeit über hinter ihm. Es war ihr zum Heulen zumute. Nach all den Jahren hatte sie sich endlich eingestanden, wie sehr sie den Spielmann vermisst hatte und nun war er wieder da, aber eben kein Spielmann mehr, sondern der Gutsherr. Die Verbindung eines solchen mit einer Kuhhirtin war einfach undenbkar!
Also nahm Anke innerlich Abschied, während die Laute erklang.

Am nächsten Tag ritt Enki nach Freidorf, wo er die Menschen ebenso vorfand, wie er sie in Erinnerung hatte: Freundlich, hilfsbreit, fleißig und lebensfroh. Zu verdanken war das zum großen Teil ihrem Dorfschulzen, Saloniki. Viele weise Worte sprach dieser zu Enki und als er später darüber nachdachte, fand der Spielmann, dass gerade Salonikis Behauptung, er sein "nur" ein einfacher Schulze wohl ein wichtiges Kriterium für einen guten Herrscher sei: Dass man selbst sich nicht anmaße, ein solcher zu sein, dass man demütig bliebe und bereit war, dazuzulernen. Enki wusste genau, wer ihm dabei helfen konnte. Der Mensch war nicht dazu gedacht, allein zu bleiben, so stand es schon in der Bibel. Ja, und da stand auch, dass man seine Eltern zu ehren hatte. "Mein Vater hat´s mit einer Magd getrieben, so will ich seinem Beispiel folgen!" lachte Enki. "Viel Geld habe ich derzeit nicht im Beutel, daher wird mein Nachname als Gabe an Anke genügen müssen..."
Wie er sich so mit unstandesgemäßen Heiratsplänen trug, ihn dabei aber immer wieder wegen Ottomar in seinem jammervollen Zusstand ein schlechtes Gewissen plagte, erreichte Enki Mühlingen. Dort wirkte alles, als hätten sich die Soldaten zum Abmarsch vorbereitet. Doch etwas hatte sie aufgehalten. Die Leute waren völlig außer sich. Was war da geschehen?
Enki drängte sich durch die Menge, bis er den Hauptmann und Weibel Karl fand. Puterrot im Gesicht brüllte dieser zwei der Soldaten zusammen.
Es handelte sich um Johann und "Peter"...

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