Die Dorfchronik von Mühlingen

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Sa 5. Okt 2013, 21:40

Was bisher geschehen ist: Wir befinden uns in der Zeit des Bauernkrieges. Enki der Spielmann ist der uneheliche (wenn auch mittlerweile anerkannte) Sohn einer leibeigenen Magd und des Barons von Bachental. Bis vor kurzem half er beim Aufbau des Dorfes Mühlingen und freundete sich mit dem Dorfschulzen des Nachbarortes Freidorf mit Namen Saloniki an. Als Gerüchte über Unruhen im Land aufkamen, verließ er Mühlingen, um mehr darüber in Erfahrung zu bringen.

Weit in der Ferne… irgendwo im Heiligen römischen Reich deutscher Nation…

Eine steife Brise wehte über die Felder, brachte das Haar der jungen Frauen durcheinander und zerrte an den Kopftüchern der verheirateten.
Der Herbst hatte Einzug im Land gehalten. Überganglos war es empfindlich kalt geworden. Der goldene Altweibersommer, den Enki so liebte, war in diesem Jahr nicht mehr als ein flüchtiger Gedanke gewesen, der aufkam und sofort wieder verschwand. Doch liesen sich die Bauern im Dörfchen Hinterkutschenreuth davon beirren? Nein, ganz im Gegenteil! Die Kinder wettweiferten mit dem Wind, wer wohl mehr Blätter aufwirbeln lassen konnte, die Frauen banden ihre Kopftücher fester und die jungen Mädchen fuhren sich in einer Weise durch ihre zerzaustes Haar, die so manchen Jüngling zittern machte – und das ganz und gar nicht vor Kälte ;)
In Hinterkutschenreuth wurde Erntefest gehalten und jedermann, der sich das Jahr über an der Arbeit beteiligt hatte, war eingeladen.
Die Tagelöhner zählten ihr Geld. So mancher würde es in ein Ferkelchen investieren, das bis Heiligabend gemästet und dann dann einen feinen Festagsschmauß abgeben würde.
Der Spielmann aber, der sich zum Fest eingefunden hatte, fand, dass der größte Festschmauß bereits auf den langen Tischen stand. Es gab nämlich Erdbeerkompott in allen erdenklichen Varianten, zubereitet aus den Früchten der Auslesezucht des nahen Klosters. Zuerst hatte Enki der Spielmann kaum glauben können, dass es sich um Erbeeren handelte. Er kannte doch den Wald mit allen seinen Gefahren und den Früchten, die er hergab, von seinen Reisen und solche großen, fetten Beeren hatte er noch nie gesehen! In der Quarkspeise, die er gerade löffelte, befanden sich klein geschnittene Früchte und ein Viertel der gezüchteten war so groß wie eine wilde. Und sie schmeckten phantastisch!
Als Enki sich den Mund abwischte und in die Runde blickte, gewahrte er einen Herold. Der Mann musste gerade erst angekommen sein. Er schritt durch die Menge, hielt diesen oder jenen Dörfler auf, stellte Fragen, schien aber jedesmal nur ein Schulterzucken zur Antwort zu erhalten.
Enki hörte einen der Hinterkutschenreuther sagen: „Fragt doch mal den Spielmann dort! Der ist weit herumgekommen, bis nach Mühlingen und Freidorf im bambergischen. Vielleicht kennt der ja den Mann, den Ihr sucht!“
Dankbar tippte sich der Herold an seine Mütze. Er rückte seine Umhängetasche zurecht, packte seine Fanfare fester und trat auf Enki zu. Dieser setzte sachte die leer gelöffelte Kompottschale ab. Aus irgendeinem Grund hatte er plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Das Gesicht des Heroldes kam ihm bekannt vor, doch er vermochte ihn nicht einzuordnen. Dem Adelsboten schien es ebenso zu gehen.
„Mir wurde gesagt, du könntest mir vielleicht helfen“, begann der Herold, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. Seine Stimme klang nicht unfreundlich, doch merkte man ihm an, dass er einen weiten Weg hinter sich hatte und der Verdruß angesichts seiner bislang ergebnislosen Suche groß war. „Ich trage eine Botschaft für einen Herrn Enno-Kilian von Bachental bei mir…“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 8. Okt 2013, 13:34

Eines muss man Enki lassen: Er blieb ruhig und gefasst. Weder blinzelte er verräterisch, noch lies er sich zu einem „Ich kenne ihn vielleicht“ hinreißen. Achselzuckend erklärte er, dem Herold nicht helfen zu können. Und das war sein Fehler. Denn der andere kannte die Stimme, kannte sie genau, hatte er sie doch seine Kindheit über beinahe täglich gehört. Die Wege der beiden hätten sich nicht oft kreuzen dürfen, denn Enno-Kilian „Enki“ war ein Leibeigener gewesen, der aufs Feld gehörte, Arnold hingegen der Sohn des Dorfschulzen. Doch aufgrund seiner rebellischen Natur hatte der kleine Enki oft genug vor Arnolds Vater stehen müssen. Manchmal hatte der Schultheiß Gnade vor Recht ergehen lassen, dann wieder hart durchgegriffen. Doch weder Strenge noch Güte hatten einen rechtschaffenen, hart arbeitenden Kerl aus dem Baronssohn machen können. Eines Tages war er einfach fortgelaufen.
Der Herold holte eine gesiegelte Schriftrolle aus seiner Tasche hervor. Wortlos überreichte er sie Enki.
„Was ist das?“
„Lest es selbst! Ich weiß, dass Ihr es könnt!“
Enki grinste. „Sicher weißt du das. Ich habe ja oft genug deine Schulaufgaben für dich gelöst, wenn du lieber fischen gehen wolltest.“
Es dauerte nicht lange, da sackten die Mundwinkel des Spielmanns nach unten. Mit dem Grinsen verschwand auch jede Farbe aus seinem Gesicht. „Ein Einberufungsbefehl…?“ wisperte er.
Arnold nickte. „Euer Vater hat Euch anerkannt. Damit gehen nicht nur Goldgeschenke und Privilegien einher, sondern auch Pflichten!“
Enki fluchte! Ausgerechnet er sollte Soldaten gegen aufständische Bauern führen?!
„Weil ich sonst vielleicht auf die Idee käme, die Menschen gegen eure Ritter ins Feld zu führen? Fürchtet Ihr das?“
Arnold schüttelte den Kopf. „Nein. Dafür habt Ihr ein zu loses Mundwerk. Jeder weiß, dass Hunde, die bellen, nicht beißen.“
Der Herold nahm einen Krug Bier von einer Dörflerin entgegen. Sie lächelte ihn an, drehte ihre Hüfte, schenkte Enki ein etwas längeres Lächeln und tänzelte dann weiter. Die Hinterkutschenreuther wussten ja nicht, wie gespannt die Situation war. Sie feierten einfach ihr Fest und betrachteten den Unglücksboten als einen Gast wie jeden anderen.
„Euer Vater ist gebrechlich, Enki“, führte Arnold aus. „Er kann dem Befehl selbst nicht Folge leisten. Daher ist es an seinem ältesten Sohn, die Familienehre aufrecht zu erhalten.“
„Dieser schlaue Hund!“ Enki spuckte auf den Boden. „Deswegen hat er mich also anerkannt! Weil er sich ausrechnen konnte, dass so eine Order kommen würde und er seinen ehelichen Sohn nicht der Gefahr aussetzen will!“ Der Spielmann senkte die Hand, in der er den kaiserlichen Befehl hielt. Er schloss die Augen. „Und ich dachte wirklich, Vater hätte sich geändert. Aber er ist so berechnend wie ehedem.“
„Nun, Ihr habt die Wahl“, meinte Arnold der Herold. „Entweder Ihr fügt Euch in die gottgegebene Ordnung und leistet dem Aufruf Folge, oder Ihr verweigert den Dienst und macht euch des Hochverrates schuldig.“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Do 10. Okt 2013, 14:26

Enki dachte an Gunther den Grauling und seinen Haufen von Gesetzlosen daheim in Mühlingen. Wenn er jetzt fortlief, würde er womöglich einige Zeit in einer ähnlichen Bande überleben können, bevor man ihn gefangennahm und hinrichtete.
Ein freies Leben hatte der Spielmann führen wollten, nicht das eine Verbannten und gesuchten Verbrechers! Andererseits konnte Enki auch nicht gegen die Aufständischen kämpfen, deren Ansprüche er ja für gerechtfertigt hielt! Am klügsten wäre es wohl, sagte sich der Spielmann, einfach ersteinmal mitzuspielen und dann im ersten Gefecht den eigenen Tod vorzutäuschen oder etwas in der Art.
Er begleitete Arnold daher zurück nach Bachental, wo ihm die hiesige Landwehr unterstellt wurde. Eine Woche später befand der Spielmann sich in einem Zeltlager, wo mehrere dieser frisch ausgehobenen Einheiten zusammen an der Waffe ausgebildet werden sollten.
Enkis Wissen über Strategie und Taktik stammte aus den ihm bekannten Liedern und alten Legenden. Bereits am ersten Tag in Gesellschaft seiner Standesgenossen stellte der Spielmann fest, dass selbst sein Halbwissen das der anderen weit übertraf. Von der edlen Abstammung abgesehen existierte offenbar keinerlei Voraussetzung für den Offiziersrang und es gab keine formelle Ausbildung. Enki teilte sein Zelt mit einem heimwehgeplagten Elfjährigen, der das erste Mal von daheim fort war, einem schmächtigen Männlein unbestimmbaren Alters, das beständig aus Ritterromanen zitierte und seine Erlebnisse im Feld dichterisch umsetzen wollte sowie einem Bastard wie ihm selbst, der sich allerdings von ganz unten hochgearbeitet hatte. Enki setzte große Hoffnungen darauf, von diesem zu lernen, doch er musste einsehen, dass er da vergeblich hoffte. Der altgediente Soldat konnte einen ehemaligen Spielmann als Feldherren einfach nicht ernst nehmen und ging lieber einen heben, anstatt sich mit seinen blaublütigen Kameraden auseinanderzusetzen.
Enki stützte sich daher vornehmlich auf die Erfahrung des ihm unterstellten Weibels. Er steuerte inspirierende Reden und Ideen, die der Unteroffizier praktisch umsetzte, bei. Weil er seine Grenzen einschzuschätzen vermochte und lernwillig war, gewann der junge Edelmann rasch die Herzen seiner Männer.
Es kam der Tag, an dem keine Manöver und Waffengänge zu Übungszwecken mehr abgehalten wurden. Die Truppen erhielten ihre Marschbefehle.
Der Weibel, Karl mit Namen, spähte Enki über die Schulter, als dieser das Dokument aufrollte. „Und, Herr Leutnant? Wohin geht’s? Wem soll der Marsch geblasen werden?“
Tonlos gab Enki Antwort: „Mühlingen…“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Sa 12. Okt 2013, 01:30

Vierzig Mann unterstanden Leutnant Enki von Bachental, was in etwa der Erwachsenenbevölkerung Mühlingens entsprach. Der Spielmann kannte jeden einzelnen beim Namen, konnte jederzeit ihre Eigenarten hersagen und wusste von den meisten, wie es um ihre Familienverhältnisse bestellt war. Nur traf dasselbe auf die Mühlinger zu…
Ungewöhnlich in sich gekehrt ritt der Edelmann an der Spitze seiner Truppen, als es an der Zeit war aufzubrechen. Das änderte sich auch die nächsten Woche über nicht. Es schien, als hätte jemand den lebendigen Enki gegen einen durch Schwarzkunst animierten Golem ausgetauscht, der sich bewegte und vom Zaubermeister vorgebene Sätze zu sprechen vermochte, aber keine Persönlichkeit aufwies.
Wenn die Soldaten untereinander tuschelten und behaupteten, dies sei nicht mehr ihr so verehrter Feldherr, winkte Karl jedesmal nur ab und erklärte, der Bachentaler versuche eben, sich so distanziert zu verhalten, wie es von einem Offizier erwartet wurde. Wenn es drauf ankäme, würde er seine Sinne und den Verstand schon zusammennehmen.
Endlich kam das Ziel in Sicht. Bereits mehrere Tage zuvor war kundigen Augen aufgefallen, dass in dieser Gegend etwas nicht stimmen konnte. Das Korn stand überreif auf den Feldern, ohne dass sich jemand berufen gefühlt hätte, es zu ernten. Krähen pickten die Ähren kahl und die Tiere des Waldes liefen hindurch, ohne dass ihnen ein gräflicher Jäger Einhalt geboten hätte. Am Wegesrand türmten sich Laubhaufen. Drei besonders hohe hatte der Wind direkt auf der Straße zusammengeblasen, so dass sie wie eine kleine Hügelkette wirkten.
Während Enki angesichts dieser Laune der Natur den Kopf schüttelte, brüllte Karl: „Los, Männer, kein Ausweichen für uns! Hopp, hopp, hopp drüber hinweg gehüpft!“
Auf Kommando begannen die Soldaten zu laufen und kurz vor den Blätterhaufen stießen sie sich zum Sprung auf die andere Seite ab. Einigen gelang des Manöver tadellos, andere bewegten sich in ihren Lederwämsen noch immer unbeholfen und sprangen daher viel zu kurz oder nicht hoch genug.
„Haha! Gleich liegen sie auf ihren Hintern!“ lachte Karl. Der Weibel hoffte, dass der Spott ihrer Kameraden die Ungeschickten dazu bringen würde, härter zu trainieren. Zumindest würden sie weich fallen. Was gab es außer ein paar blauen Flecken auf dem Gesäß schon zu befürchten?
Tja…

Karls Rechnung ging ganz und gar nicht auf. Alle diejenigen, die zu kurz gesprungen waren, fielen zwar in die Laubhaufen hinein, jedoch alles andere als weich. Enki und Karl hörten die Männer wiederholt aufschreien und als sich die ersten aufgerappelt hatten, sah man die ganze Bescherung: Ihre Wämse waren von oben bis unten aufgeschlitzt und sie bluteten aus Schnittwunden.
Karl fluchte! Sechs Verwundete noch vor dem ersten Gefecht, wie konnte das angehen?! Hatten sich Monsterigel die Laubhaufen zum Winterquartier erkoren oder was?
Enki lenkte sein Pferd näher an die Blätterhaufen heran. Nun, da sie durcheinander gewirbelt waren, sah man metallische Teile herausragen. Es handelte sich um Pflüge, Mistgabeln und Hacken. Jemand hatte das Laub absichtlich so arrangiert, dass die Gerätschaften verborgen bleiben mussten. Ihre Spitzen waren nach oben und in Richtung der Ankömmlinge gerichtet, so dass es keinen Unterschied machte, ob man versuchte, den Haufen zu überspringen oder in vollem Tempo hindurchzumarschieren.
Trotz des Stöhnens der Verwundeten um ihn herum, musste Enki schmunzeln. „Da wusste jemand, dass außen herum laufen keine Option für überhebliche Offiziere sein würde…“
Karl brummte etwas Unverständliches, das nach einem Schuldgeständnis klang. Besser späte Einsicht als gar keine, sagte sich Enki.
Der unfreiwillige Leutnant stieg von seinem Pferd. Er deutete auf die Pflüge, an denen Kleiderfetzen hingen und uber die das vergossene Blut seiner Männer rann. „Diese Pflüge haben die Mühlinger aus mühsamst erhandelten Einzelteilen zusammengebaut“, sprach er dabei laut. „Bessere gibt es nicht und nur aufgrund dieser Pflüge hat so mancher Wanderarbeiter beschlossen, sich hier niederzulassen. Sie sollten das Leben erleichtern, nicht als Waffen in einem Krieg dienen. Gott, das ist alles so krank!“
„Ja, das ist alles ganz wundervoll herzzerreißend, Herr Leutnant“, knurrte Karl, „aber wir müssen die Männer jetzt wieder aufrichten, versteht Ihr?“ Der Weibel riss an einer der Mistgabeln, bis sie sich aus der Konstruktion löste. Ein Lederstreifen hing noch an der mittleren Zinke. „Das haben die Aufständischen nicht umsonst getan!“ rief er in die Runde. „Sie werden bezahlen, indem sie mit ihren eigenen Waffen niedergestreckt werden!“ Enki hörte kaum, was Karl und die Soldaten sonst noch riefen. Er sah, wie sich jeder eine Hacke, ein Pflugschar oder etwas anderes aus dem Laufbhaufen holte, bis die Falle zerstört war. Selbst den Verletzten schien es wichtiger zu sein, ihre neuen „Waffen“ gen Himmel zu recken und „Rache!“ zu brüllen.
„Ruhe alle miteinander!“ schrie Enki. „Wir schlagen hier unser Lager auf. Feldscher zu mir – du hast zu tun. Heute Nacht gehe ich mit zwei Mann auf Kundschaft, damit wir wissen, was uns erwartet. Freiwillige melden sich bei Karl.“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 16. Okt 2013, 16:34

Gesindehaus von Mühlingen.
Zur selben Nacht.

„Heda, Drallemausi!“ dröhnte eine harte, männliche Stimme durch den Hauptraum. „Bring uns noch was zu trinken! Aber von dem Guten!“
Die solcherart angesprochene, eine wohlgerundete Bäuerin, der man ansah, dass sie die Käselaibe, Erbeerkuchen und Hasenschenkel zu schätzen wusste, zuckte zusammen. Die um den Tisch sitzenden Männer lachten nur. „Meinrats Wilde Meute“ nannten sie sich, und hielten das Dorf bereits seit Wochen in einer Art Belagerungszustand. Bei den meisten handelte es sich um aufständische Bauern, häufig die letzten Überlebenden ihrer zerschlagenen Banner. Doch es befanden sich auch ehemalige Soldaten unter ihnen, Deserteure übelsten Schlages. Vereint wurden die einstigen Gegner durch das Gold, das ihnen ihr derzeitiger Auftraggeber zahlte und den Wein aus der Mühlinger Winzerei.
Sie tranken. Sie vergaßen, dass sie Söldner und Rebellen gewesen waren und dass der Kerl, dem man gegenübersaß vor wenigen Monaten den eigenen besten Freund erschlagen hatte. Sie tranken gemeinsam weiter und vergaßen, dass sie Menschen waren. Immer und immer wieder wurden Krüge gehoben und geleert, besonders, wenn das Denken und der Ansatz einer Identität ihnen den Genuss ihres Lebens zu trüben drohte.
Drallemausi – der Herrgot kannte sie unter ihrem Taufnamen „Anke“ – senkte den Blick. Was würde Enki wohl von diesen Männern halten? Und warum dachte sie ausgerechnet an den den Spielmann? Der hatte sich doch bereits vor zehn Jahren aus dem Staub gemacht und war wohl inzwischen auf irgendeinem Schlachtfeld gefallen, weil er sicher nichts Besseres zu tun gehabt haben würde, als sich als Regimentsmusiker dem erstbesten Bauernhaufen anzuschließen. Mit diesem Hallodri hatte sie zum Glück nichts mehr zu tun!
Wortlos stellte Anke ein Tablett vor die Trinker ab. Der Wortführer der Männer schlug ihre Hand zur Seite. Tablett, Becher und die beiden Weinkrüge purzelten durcheinander und schlugen auf den Holzdielen auf.
„Ich habe gesagt, von dem Guten!“ beschwerte sich der Trinker.
„Das war unser Best…“ begann Anke, was ihr allerding eine Ohrfeige einbrachte.
„Erzähl doch keine Märchen! Ich weiß genau, dass ihr noch eine Kiste Apfelwein vor uns versteckt!“
„Ja, aber… der ist nicht einfach so zum Trinken. Das ist etwas für besondere Anlässe!“ brachte Anke hervor. „Und überhaupt! Wir müssen den zu Apfelschnaps weiterverarbeiten und verkaufen, weil wir sonst kein Geld für Saatgut haben werden und dann muss das Dorf verhungern.“
„Verhungern könnt ihr auch noch im Winter, meinen Apfelwein will ich JETZT sofort!“ verlangte der Anführer. In aufgesetzt versöhnlichem Tonfall fügte er hinzu: „Und wenn ihr Glück habt, kommt es gar nicht soweit, weil ihr vorher ohnehin alle erschlagen werdet, sobald die Kaiserlichen hier eintreffen.“ Höhnisches Lachen der anderen kommentierte diese Worte.
Jemand berührte Ankes Schulter. Diese fuhr herum, trat gleichzeitig einen Schritt zurück und streckte die Hände abwehrend vor ihren Körper. Dann erst erkannte sie, dass es sich um einen Mühlinger handelte, den geschickten Zimmermann, der Meinrats Meute als Stiefelknecht dienen musste.
„Ruhig, Anke, ich bins doch nur, der Waldemar!“ Waldemar ergriff die Hände der Frau und drückte sie fest. „Du solltest besser den Apfelwein holen.“
„Aber…“
Waldemar schüttelte den Kopf. "Hol den Wein oder nicht, aber mach dich raus hier“, wisperte er eindringlich. „Bevor die Bande wieder auf „spaßige“ Ideen verfällt, wie sie sich den Abend vertreiben kann…“
„Und was ist mit dir?“
„Ich komme klar.“
„Also gut.“
Verfolgt von Pfiffen und „Oha“-Rufen der Trinker eilte Anke aus dem Gesindehaus. Sie folgte dem Lehmweg vorbei an der Garküche linker Hand und der leerstehenden Zimmerei zu ihrer Rechten, bis sie am Ende der Straße die Brennerei sehen konnte.

Gast

Photos: Halloween Höfe

Beitrag von Gast » Do 24. Okt 2013, 21:34

Die Untoten halten ein grausiges Festmahl in dem kleinen Dörfchen Mühlingen!
Die Sonne ist noch nicht einmal untergegangen, da halten sie bereits das Dorf in Angst und Schrecken.
Bild
Bei der diesjährigen Kartoffellese wurden mumizierte Moorleichen ausgegraben, die - oh Schreck! - sogleich umherzulaufen begannen. Als erstes haben sie die Köchin gezwungen, nichts als Kürbsisuppe zu kochen, rund um die Uhr. Als das Gold des Dorfschulzen ausging, war es aus natürlich mit den Kürbismahlzeiten. Die Mühlinger glaubten, es damit überstanden zu haben, doch weit gefehlt!
Die Untoten errichteten einen Pferch, in den sie jeden sperrten, den sie erwischen konnten. In ihrer Verzweiflung verbarrikadierten die Dörfler den Weg zu Bauern- und Gesindehaus mit allem, was sie finden konnten: Fässer, Säcke, Forken und Pflüge.
Ob die Barriere die unheiligen Kreaturen abhalten wird? Was wird aus den Gefangenen? Was hat der Hackklotz an ihrem Pferch zu bedeuten?!!! Und welch finsteres Wesen wird wohl der Kutsche entsteigen, die gerade eingefahren ist?
Fragen über Fragen, auf die wir die Antworten vielleicht gar nicht wissen wollen...

EDIT: Dieser Post gehört nicht zur eigentlichen Geschichte (und steckte deswegen ja auch urspünglich auch in einem anderen Thread). Seht ihn als kleines Halloween Special an ;)
Zuletzt geändert von Gast am Fr 25. Okt 2013, 13:05, insgesamt 2-mal geändert.

Gast

Re: Photos: Halloween Höfe

Beitrag von Gast » Fr 25. Okt 2013, 10:46

Hallo Enki,
das ist mal was ganz außergewöhnliches - ich musste sehr lachen. Besonders witzig finde ich die gedeckten Picknick-Tische für die Mumien. Schön gemacht! Danke für die gute Unterhaltung!

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Fr 25. Okt 2013, 14:48

Gern geschehen :)
Die Mumien lassen übrigens mit sich verhandeln. Immer, wenn ich die Waren in den Sprechblasen liefere, lassen sie einen Farmi aus dem Pferch raus...

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Und nun zurück in die "Realität":

Der Nachtwind pfiff durch Ankes Kleid und zerrte an ihrem wollenen Schultertuch. Da man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte, musste das Gehör einspringen. In der Dunkelheit wurden alle Geräusche verstärkt, erschienen bedeutungsvoller und bedrohlich.
Das Schlagen der Flügel einer Eule lies Anke kurz stocken. Sie konnte das Tier nicht sehen – wie sollte sie da sicher sein, dass es sich nur um einen Nachtvogel handelte? In Herbstnächten wie dieser hatte Enki der Spielmann früher oft Geschichten von steinernen Figuren zum Besten gegeben, die zum Leben erwachten und den Menschen nachstellten. Kaum hatte sie diesen Gedanken zuende gebracht, fühlte sich die Frau beobachtet.
Sie zog ihr Wolltuch fester um den Oberkörper und sagte sich, das sei alles nur Enkis Schuld, ihr solche Flausen ins Ohr gesetzt zu haben. Als ob es nicht genügend echte Gefahren in der Welt gäbe!
„Ach, Enki…“ flüsterte Anke.

Die Dörflerin war sich nicht bewusst, dass tatsächlich Augen auf sie gerichtet waren. Genaugenommen drei Augenpaare und zusätzlich ein Kurzbogen.
Gut verborgen zwischen den Weinstöcken lagen nämlich zwei Kundschafter und ein Offizier, die sich ein Bild von der Lage in Mühlingen zu machen versuchten. Bisher war ihnen lediglich aufgefallen, dass das Dorf sich wie erwartet im Kriegszustand befand. Dass die Mühlinger Gefangene in ihrem eigenen Dorf waren, blieb ihnen noch verborgen.
„Enki?“ wiederholte der eine Kundschafter, Peter mit Namen. Er drehte seinen Kopf zu seinem adligen Vorgesetzten, Leutnant Enno-Kilian von Bachental. „Das ist doch Euer Spitzname! Woher kennen den die Aufständischen?“ Misstrauisch bewegte er seinen Bogen ein klein wenig von seinem Ziel fort, als wolle er ihn beim kleinsten Verdachtsmoment auf den Leutnant richten.
Peters Kamerad rollte die Augen. Als ob die Antwort nicht auf der Hand läge! Der Leutnant war doch ein Bastard, der als Musikant durch die Lande gezogen war. So ein Spielmann kam eben viel herum und ein gut aussehender würde schon einen Eindruck auf die Maiden allerorten hinterlassen haben. Kein Grund, daraus gleich eine Verschwörung zu basteln.
Enki nickte. Er antwortete mit gesenkter Stimme, da ein Flüstern viel zu weit getragen hätte: „Richtig, Peter. Weißt du, das ist der Name eines heidnischen Götzen. Die treiben es ziemlich bunt mit den Sterblichen und Enki weiß, dass es falsch ist, macht aber trotzdem mit. Nur eines Tages, tja, da reicht es ihm und er verrät die Seinen, um das Richtige zu tun.“
Als Peter auf diese Worte hin den Mund weit öffnete und vor Schreck keinen Ton herausbrachte, musste sich der zweite Kundschafter beherrschen, nicht laut loszuprusten. Der Kleine lies sich aber auch viel zu leicht verunsichern! Aber immerhin hatte Peter die Anspielung verstanden. Es befand sich also doch etwas anderes als Stroh in seinem hübschen Köpfchen.
Enki instruierte den besonneren seiner beiden Gefährten durch Handzeichen, die Mühlingerin vorbeigehen zu lassen und dann gefangenzunehmen.
„Ganz sicher, Herr?“ fragte dieser allein mit den Augen zurück.
Enki nickte. Er musste einfach erfahren, was im Dorf geschehen war. Und sei es nur, um sich denjenigen, der „seine“ Mühlinger so verletzt hatte, dass sie den Aufstand probten, zur Rechenschaft zu ziehen, nachdem er seine Befehle ausgeführt hatte.
Anke gab einen erstickten Schrei von sich, als der Kundschafter sich von hinten an sie anschlich, ihre Arme festhielt und mit der anderen Hand ihren Mund zuhielt.
Enki spürte es beinahe an seinem eigenen Leib. Alles in ihm krampfte sich zusammen.
„Das ist das einzige, was ich für dich tun kann, Anke“, dachte er. „Als Gefangene in unserem Feldlager hast du bessere Überlebenschancen, als wenn wir und die Truppen des Vogtes morgen über Mühlingen herfallen.“
Der Leutnant tippte Peter an, bedeutete ihm, ihm zu folgen und schlich dann voran Richtung Ortsausgang. Der zweite Kundschafter folgte den beiden, seine Gefangene fest im Griff.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 28. Okt 2013, 15:48

Der Morgen graute bereits, als die drei Späher mit ihrer Gefangenen zum Feldlager zurückkehrten. Es kam zu keiner Wiedererkennungszene zwischen Leutnant „Enki“ Bachental und Anke aus Mühlingen. Genaugenommen waren die beiden dermaßen bemüht, einander NICHT zu erkennen, dass die Soldaten nicht anders konnten, als zu tuscheln, bekräftigend auszuspucken und pointiert die Augen zu rollen.
Was die Lage im Dorf betraf, erwies sich Anke als überaus gesprächig. So sagte sie ohne die Notwendigkeit überredet zu werden aus, dass sich Mühlingen in der Hand einer Bande aus Deserteuren, landflüchtigen Bauern und was noch nicht alles befände. Soweit, so glaubhaft. Doch als sie weiterhin berichtete, diese Bande stünde in Lohn und Brot bei einem Händler aus der Stadt, runzelte nicht nur Weibel Karl die Stirn. Auch Anke selbst schien nicht so recht glauben zu können, was sie da sagte.
„Sie lügt nicht“, erklärte Enki. „Als das Dorf unter Meinrats Intrigen leiden musste, da hat Anke noch nicht in Mühlingen gelebt. Sie kann sich daher einfach nicht vorstellen, wie niederträchtig dieser Kerl war. Fürwahr, besser ist er offenbar nicht geworden.“
„Ergibt Sinn“, meinte Karl, sich den Kopf kratzend. „Aber das ist alles irre.. nein, wie hieß der Ausdruck gleich noch mal? Irrelawig-irgendwas. Soll „egal“ bedeuten. Das mit der Bande ist alles schön und gut, hilft uns aber nicht weiter. Denn wenn die Truppen des Vogtes nachher zu uns stoßen, müssen wir wissen, wie´s um die Verteidigung des Zieles steht und nicht, wie sich die Leute dort gerade fühlen. Bewaffnung, Aufteilung der Wachen und dergleichen, hat sie uns dazu etwas zu sagen?“
Auch diese Information lieferte die Mühlingerin und obwohl Karl darüber klagte, dass Anke eine Helebarde nicht von einer Glefe oder Pike unterscheiden konnte, musste er doch zugeben, mit dem Gehörten etwas anfangen zu können.
„Nun denn, Euch liegt ja etwas an dem Weiher, ich denke, wir können ihn befreien“, sprach er zu seinem Leutnant. Doch Enki wusste, dass ein Angriff auch Unschuldige in Gefahr bringen würde. Meinrats Meute würden die Dörfler als lebendige Schilde gerade recht kommen und seine eigenen Soldaten würden außer Rand und Band geraten, waren sie ersteinmal losgelassen.
„Ich reite nach Bamberg!“ entschied der Spielmann.
Auf Karls fragenden Blick erklärte er: „Der Schlange den Kopf abschlagen. Erhält das Gesindel kein Geld mehr von Meinrat, wird sich die Bande auflösen. Mit denen, die stur bleiben, werden die Mühlinger dann auch ohne unsere Hilfe fertig.“
„Euer Wort in Gottes Ohr, Herr Leutnant!“ rief Anke aus. „Der Himmel weiß, ich verspüre Wut genug, um jemand zu verprügeln!“
Mit dem unangenehmen Gefühl im Bauch, dass er genau wisse, WER dieser jemand sei, stieg Enki auf sein Ross.
„Und die Leute des Vogtes?“ rief ihm Karl nach. „Was sollen wir denen sagen?“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 28. Okt 2013, 20:42

Die Truppenteile, die sich just zu dieser Stunde auf dem Weg zum Rendzevouspunkt befanden, stellten Enkis geringstes Problem dar. Denn die Straße nach Bamberg führte durch den Wald, das Revier des „Gunther der Grauling“ genannten Räuberhauptmannes.
Und der saß auf einem der Mühlinger Kutschpeferde, das mitten auf dem Weg stand. Einen langen Speer hatte der Räuber wie eine Lanze eingelegt. Enki schluckte hart. Der Anblick der zusammengestoppelten Ausrüstung hätte lächerlich gewirkt, wäre er nicht gleichzeitig so bedrohlich gewesen. Gunther saß auf seinem Pferd wie jemand, der genau wusste, was er tat und schon mehrfach auf diese Weise Gegner das Fürchten gelehrt hatte.
Daher hob er die Hände.
„Ein Stück näher ran!“ befahl Gunther.
Enki versuchte zu gehorchen, doch das Lenken seines Reittieres alles mit den Schenkeln fiel ihm nicht leicht. Das Pferd setzte sich in Bewegung…
„Haaalt! Das ist weit genug! Genug, habe ich gesagt!“
„Sag das dem Pferd unter mir! Das ist ganz offenbar auf dem Weg ins Reich des Priesterkönigs Johannes im fernen Osten!“
Gunther schüttelte den Kopf. „Na, Euch vom Pferd zu stoßen, wird ein Gnadenakt“, bemerkte er. „Für Euch und das arme Tier…“ Gunther räusperte sich belustigt, bevor er weitersprach: „…und natürlich für den Priesterkönig, dem ich deine Ankunft in seinem idyllischen Land erspare.“
„Aber für Gnade warst du nie bekannt… Gunther Grauling.“
„Stimmt… Enki Spielmann! Sollte mich etwas davon abhalten, Euch zu erledigen?“
„Mein neuer Titel“, erwiderte Enki.
Gunther brach in schallendes Lachen aus! „Spielmann, Ihr bringt die Menschen noch in eurer letzten Stunde auf Erden zum Lachen! Als ob Ihr der erste Eures Standes wärt, den ich abserviert hätte…“
„Nein, im Ernst“, widersprach Enki. „Ich stehe viel zu niedrig in der Adelshierarchie. Mich hätten die Hochadligen im Falle meines Ablebens sogleich ersetzt. Mein Nachfolger würde dann Mühlingen ohne Bedenken niederbrennen – falls ihm Meinrats Meute bis dort dahin noch etwas übrig gelassen hätte. Aaaaalsooo, warum reiten du und ich nicht Seite an Seite nach Bamberg, wo sich diese Ratte von einem Kaufmann versteckt hält, und machen reinen Tisch?“
Gunther zögerte. Es war gefährlich für ihn, sich der Stadt zu nähern, in der er steckbriefliche gesucht wurde. Aber er vermochte den Spielmann/Leutnant durch den Wald zu begleiten. Dufte er ihm trauen, auf Mühlingens Seite zu stehen? Vermutlich, immerhin ging es hier um Enki den Idealisten. Durfte er ihm aber auch vertrauen, etwas erfolgreich zu Ende zu bringen? Fraglich…
Während der Grauling noch nachdachte, sprach Enki schon weiter: „Erzähl mir, was du vom Bamberger Grafen weißt! Ich kann ja den Meinrat nicht hinterrücks erschlagen wie der Kain den Abel damals im Heiligen Land. Es muss schon alles seine Ordnung haben, mit einer Anklage vor dem Gericht und einer Verurteilung!“
Gunther rieb sich das Kinn. Was der Streuner sprach, ergab Sinn. Ja, vielleicht gingen Vernunft und Anspruch nun endlich Hand und Hand in Enki.
„Als ich noch ein Ritter war…“, begann der Räuberhauptmann.
Enki fuhr so scharf im Sattel herum, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
„Als du noch ein bitte was warst?!“
„Lange Geschichte. Lasst die Euch bei Gelegenheit von Eurem Nachbarn Saloniki erzählen.“
„Öhm, ich glaube, der ist zurzeit weniger gut auf mich zu sprechen“, murmelte Enki.
Gunther zuckte die Achseln. „Halten wir fest, dass der eine ein Edelman wird, ders nicht zu schätzen weiß, und derjenige, dem was dran lag, unter die Räuber gehen musste. Zurück zu Eurer Frage: Vor vielen Jahren galt es beim Adel als schick, sich kleine Figürchen in Setzkästen zu stecken. Aber man kaufte die nicht einfach für sich, sondern erhielt sie nur als Geschenk von einem anderen Sammler. Diese Prozedur war ungemein wichtig. Der Bamberger war einer der großzügigsten Gönner, der viele einzigartige Figürchen zu besonderen Anlässen in Auftrag gab.“
„Ich glaube, ich erinner mich daran“, überlegte Enki laut. „Mein Vater hatte wohl so einen Kasten und unser Dorfschulze ebenfalls. Damals war ich noch ein Kind… mit allzu flinken Fingern, wenn ich genauer darüber nachdenke.“
Enki starrte auf seine behandschuhten Finger, als könne er es im Nachinein kaum fassen, sie – und die gesamte Hand – noch immer zu besitzen. Aus dem Setzkasten des Vogtes zu stehlen…
„Hm, also ist der Graf ein freigiebiger Mann?“ nahm Enki das Gespräch wieder auf. „Oder will er sich nur seine adligen Untertanen gewogen machen?“
„Nun, er weiß um jeden Landstreicher oder flüchtigen Hörigen, der in seiner Stadt unterkommt, aber solange sie sich anständig verhalten, schickt er sie nicht fort. Der Unterschied zwischen arm und reich ist groß, wie überall. Aber wer diese grundsätzliche Ungerechtigkeit verdrängen kann und die Ärmel hochkrempelt, kann es unter seiner Herrschaft vom rotznasigen Jungen, der von der Scholle fortgelaufen ist, bis zum Besitzer eines Sägewerks bringen. Und die Gemahlin steht in dem Ruf, unerbittlich durchzugreifen, wenn sie irgendwo Betrug wittert. Nur ist das Land, über das sie herrschen, zu groß. Allerorten können sie nicht sein, deshalb bleibt die mühsamste Arbeit am niederen Adel hängen.“
„Also an uns beiden.“
„Ha, ja!“ lachte Gunther. „So lass uns keine Zeit mehr verschwenden. Auf nach Bamberg!“

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