Die Dorfchronik von Mühlingen

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 19. Mai 2013, 23:06

In Mühlingen legten die Zimmermanns-Gebrüder letzte Hand an das Geschenk für den Nachbarn: eine nach ihren Bauplänen gefertigte Kutsche.
Die beiden Männer mussten zurückgehalten werden, "Verbesserungen" (lies: Experimente) daran vorzunehmen.
"Einmal muss es auch gut sein, ihr Kerls!" rügte Roswita sie.
So begnügten sich die beiden damit, die Sitzbänke mit rotem Leder zu beziehen und noch eine Decke aus herrlich weichem Kaninchenfell darüber zu breiten. Das Gefährt wurde nicht wie die Postkutschen angestrichen, sondern mit farblosem Lack überzogen, damit die Holzmaserung besser zur Geltung kam. Vollständig war es allerdings erst, nachdem Enki zwei Pferde vorspannte, die ihm sein Vater geschickt hatte. Er mochte sich wohl Hoffnung machen, dass der Spielmann durch das Geschenk Interesse am Reitsport entwickeln würde, doch hatte Enki die beiden Tier von Anfang an als Kutschpferde ausbilden lassen.
Bild
Ottmar, Roswita und Enki bestiegen die neue Kutsche. Die Peitsche knallte, die Räder begannen sich beinahe lautlose zu drehen und dann umfing die drei auch schon der Wald. Etwas bange war ihnen schon, doch der Grauling hatte sich in die Ruine zurückgezogen, in der er mit seiner Räuberbande hausen sollte, wie es hieß.
Enki begann, ein Lied zu summen. Mit jedem Ton gewann er mehr und mehr an Zutrauen in die Sicherheit der Straße und wurde lauter, bis schließlich Worte zu verstehen waren:

Der Mensch, er bleibe nicht allein,
ein Weib soll ihm Gefährtin sein...

Es handelte sich um eines der Lieder, die der Spielmann auf der Hochzeit vorzutragen plante.
Es begann mit der Aufzählung, was alles in der Welt in Paaren vorkam, wie Schuhe und Augen, wurde in der Mitte sehr biblisch und gipfelte in der Erkenntnis:

Und wohnt erstmal das Glück im Haus,
der Kindersegen bleibt nicht aus!

Doch als die Kutsche in Lady Sorayas Landgut einfuhr, blieb dem Spielmann seine muntere Trällerei im Halse stecken.
"Als käme man in eine andere Welt!" hauchte Roswita.
In der Tat rechneten die drei jeden Moment mit dem Auftauchen einer Fee oder eines ganzen Schwarms. Kunstvolle Arrangements von Blumen in ebenso kunstvoll getöpferten Schalen und Vasen säumten die Wege. Die Luft roch feucht, als sei irgendwo ein Wasserspiel oder zumindest ein größerer Teich am Werk. Über die Wipfel der Bäume und in Form geschnittenen Hecken hinweg ragte das Dach der Kapelle empor.
Stumm, beinahe eingeschüchtert, liesen die drei Gäste die Pferde weiter laufen. Ihr Hufschlag erschien ihnen nun nicht mehr edel, sondern bäurisch, trampelhaft und fehl am Platze.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 21. Mai 2013, 23:05

So lange hatten sich Ottmar, Roswita und Enki auf die Hochzeit in Freidorf gefreut und nun blieben diese schönen Stunden schon wieder „hinter den Hügeln im Westen“ zurück, wie das Dichterwort sagte.
Der Geruch von Kohle und Fischresten hing nun beständig über dem nordwestlichen Dorfrand. So viel Holz fraßen die Meiler der Köhler, dass die Mühlinger aufforsten mussten, wollten sie sich nicht ihrer Lebensgrundlage berauben. Wie sie die Setzlinge in die Erde steckten, fiel den Dörflern eines Tages etwas Merkwürdiges auf: ins Unterholz war Bewegung gekommen und etwas schimmerte weiß und schwarz durch die Sträucher. „Ei, das wird wohl Feirefiz sein, der Bruder des Kriegers Parzival“, spöttelte Enki. Die Umstehenden lachten! Noch vor wenigen Wochen hätten sie die Worte des Spielmannes für bare Münze genommen und wären in abergläubiger Scheu zurück ins Dorf gelaufen. So aber griffen sie ihre Pflanzstäbe fester und schauten nach, wer oder was da umherging. Wehe, wenn es sich als Räuber herausstellen sollte!
Wie erstaunt waren die Männer und Frauen, als sie einen jungen Bullen und vier schwarz-weiß gefleckte Kuhkälbchen entdeckten! Die Tiere liefen frei im Wald umher und fraßen, was sie fanden. Woher sie wohl kommen mochten? Und wem gehörten sie?
Enki näherte sich vorsichtig einem der Kälbchen. Schon wollte er die Hand ausstrecken, da schoss etwas Lebendiges auf ihn zu.
RUMMS!
Eine kurze Keule sauste auf die Hand des Spielmannes herab und hätte dieser sie nicht geistesgegenwärtig zurückgezogen, mit dem Zupfen von Saiten wäre es in nächster Zeit aus gewesen.
„Du Dieb! Sofort nimmst du deine dreckigen Griffel von meinen Kühen!“ keifte die Person, welche die Keule führte. Es handelte sich um eine etwa zwanzigjährige Frau. Sie trug gute, wenngleich arg mitgenommene Kleidung, musste bis vor kurzem adrett frisiert gewesen sein - und sie holte schon wieder mit der Keule aus!
„Nur die Ruhe, Gevatterin!“ rief Enki. „Ich wollte nur nach dem Brandzeichen sehen!“
„Und wenn sie keins gehabt hätte, wärst du mit Esmeralda im Wald verschwunden, ja, genau!“ schimpfte die Frau.
„Wozu? Ich habe selbst ein ganzes Dorf voll mit dem Viehzeug, drüben in Bachental.“
„Ach, alles klar, da hättest du Esmeralda gut verstecken können!“
Enki wurde die Angelegenheit zu dumm. Mit Vernunft und Sachlichkeit kam er hier nicht weiter, doch waren das ohnehin keine Eigenschaften, in denen ausgerechnet ein fahrender Barde glänzte. Stattdessen lies er wie beiläufig eine Bemerkung über die Augen der Fremden fallen, die angeblich glänzten wie zwei Smaragde.
Gerührt lies die Angreiferin ihre Waffe sinken. „Das ist dir aufgefallen?“ hauchte sie. „Unter all dem Dreck und den Blättern in meinem Haar?“
Enki grinste. „Mir ist noch viel mehr aufgefallen, aber wenn ich davon anfinge, schimpftst du mich bloß wieder einen Schurken!“
„Nein.“ Die Fremde schüttelte den Kopf. „Einem Schurken wäre meine Augenfarbe egal.“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 22. Mai 2013, 22:46

Unterdessen tauchten nach und nach auch die anderen Mühlinger aus dem Wald auf. An ihrer Kleidung und ihren Werkzeugen waren sie leicht als Pflanzer und nicht etwa als Räuberbande erkennbar. Als dann auch noch in Gestalt Roswitas eine zweite Frau auftauchte, begann die Fremde Zutrauen zu fassen.
Die junge Frau erklärte, sie hieße Anke und sie käme aus… „Ich komme von nirgendwo.“ *Leises Schniefen* „Den Ort gibt es nicht mehr…“
Enki musterte Anke. Er rief sich seine Reisen ins Gedächtnis. War da nicht einmal ein frischer Becher Kuhmilch gewesen, den eine Hirtin den Passagieren der Postkutsche ausgeschenkt hatte, während sie darauf warteten, dass die Rinderherde endlich die Landstraße freimachte? Sie hatte ihm doch so lustig zugezwinkert… die Hirtin, nicht die Landstraße (obwohl der Spielmann zu Weib und Straße ein gleichermaßen inniges Verhältnis pflegte). Wo war das noch einmal geschehen? Ach, ja, in Kuhdorf, gleich hinter der Grenze zur benachbarten Grafschaft.
„Kuhdorf – gibt es nicht mehr?!“ fragte Enki daher.
Anke nickte. „Zuerst hat uns der Ritter verboten, im Wald Schlingen zu legen, obwohl es unser Recht seit uralten Zeiten ist. Das ging ja noch, vielerorten ist es eben so und nicht anders und wir sahen ein, dass wir keine Sonderrechte fordern durften, wo es doch die anderen Dörfer auch nicht konnten. Aber dann nahm er sich auch noch die Weiden, um einen Turnierplatz daraus zu machen.“
„Mit solchen Verlustierungen ist heuer viel Geld zu machen“, wusste Enki zu sagen.
Wieder nickte Anke. „Das ging uns zu weit. Der Schultheiß von Kuhdorf redete uns zu, wir dürften uns diese Ungerechtigkeit nicht gefallen lassen. Ja, aber dann sprach er alles mögliche andere Zeug, und ehe wirs uns versahen, hatte er uns überredet, in einem großen Haufen gegen den Ritter zu ziehen. Die Männer sollten für Rechte streiten, dabei wollten wir doch nur unsere Weiden zurück!“
Enki gingen mehrere Antworten durch den Kopf, doch er blieb stumm. Was sollte er auch fragen? Es war ja offensichtlich, wie die Sache ausgegangen war: Des Ritters Waffenknechte hatten das Bauernregiment aufgerieben und dann ein Exempel an dem aufständischen Dorf statuiert. Und das alles nur, weil ein machtgieriger Schultheiß nicht mit dem zufrieden war, was er besaß, sondern die Unzufriedenheit der Bauern für seine eigenen Zwecke ausgenutzt hatte.
Doch wo dem Spielmann die Worte fehlten, war Roswita zur Stelle. Sie trat auf Anke zu, legte ihr ein wollenes Tuch um die Schultern und erklärte: „Jetzt bist du bei uns! Unser Graf achtet das Alte Recht und die Schultheiße sind allesamt wackere Männer, die selbst anzupacken wissen. So einer wie euer Ritter würde in unserer Grafschaft nicht geduldet.“
Anke lachte herzlich, doch sie zitterte noch immer ein wenig. „Du redest mir das so schön, dass ich am liebsten bei euch einziehen würde!“
„Aber natürlich kannst du bei uns bleiben!“ versicherte Roswita der jungen Flüchtlingsfrau spontan. „Du und deine Kühe.“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Do 23. Mai 2013, 14:18

Anke lächelte dankbar. „Schön, dass ihr mir helfen wollt, die Herde wieder aufzubauen.“
Moment mal? Herde? Wieder aufbauen? Davon hatte niemand gesprochen! Aber wie sie da so hilfsbedürftig in ihrer Mitte stand, vermochte keiner der Mühlinger, Anke etwas abzuschlagen. Nur der Spielmann verstand, dass die Frau alles andere als hilflos, sondern blitzgescheit war. Sie hatte die Umstände der ersten Begegnung, das Mitleid der Dörfler, zu ihrem Vorteil auszunutzen gewusst!
Milchvieh, was für ein Plan! Und dann auch noch im großen Stil, wo schon eine Kuh einen kleinen Schatz darstellte! Rinder selbst zu züchten, eine Herde aufzubauen… Da reichte es nicht, einen Trog und eine Raufe ins Gatter zu stellen, nein, so ein Rindvieh war empfindlich. Kuhstall, Krippe und Ruheplatz. Der Nachbar Pearl stand hilfreich mit so manchem Rat zur Seite, dafür führte ihm Enki vor, wie man einen Forellenteich anlegte. Frau Detaerika, die selbst erfolgreich Viehzucht betrieb, konnte auch das eine oder andere beitragen. Das kleine Mühlingen besaß nichts, was die Großbäuerin nicht selbst längst hatte, daher revanchierten die Dörfler sich, indem sie der Dame bei der Fundamentausschachtung für einen prächtigen Brunnenplatz halfen. So sollte man eigentlich denken, dass der Bau des Stalls zügig voran gegangen wäre, doch unberechenbares Wetter hielt die Arbeiten auf und es ging nur schleppend voran. Wonnemonat Mai? Jaaaa, schon, aber nur, wenn man das aufs Kuscheln im Haus bezog, während der Regen gegen die Fensterläden platterte. Zum Glück war wenigstens der Unterstand für die wertvollen Kälber rechtzeitig fertig geworden!

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 27. Mai 2013, 14:45

Die Investition des Kuhdorfer Ritters hatte sich ausgezahlt: der turnierbegeisterte Kaiser hatte ihm einen neuen Titel verliehen und er durfte sich nun Baron nennen. "Ein Räuberbaron wohl eher!" klagte Anke, als die Nachricht auch Mühlingen erreichte.
"Nun ja", meinte Ottmar. "Nicht alle Ritter, die ihre Bauern ausbeuten, sind selbstsüchtig. Viele wissen selbst nicht, wie sie über die Runden kommen sollen. Und das merken diejenigen, die eine Stufe drunter stehen, natürlich, solche wie dein Schultheiß oder die reichen Kaufleute in den Städten. Sie sagen sich, ei, jetzt sind wir so reich wie die Herren, jetzt wollen wir auch so viel Macht wie die. Diejenigen, denen es wirklich dreckig geht, interessieren sie nicht. Sie machen sich nur deren Ärger zu Nutze, um ihre eigenen Ziel zu erreichen. Enki schiebt gern alles, was ihm an der Welt nicht passt, auf die hohen Herren, aber auch er wird lernen müssen, dass es Charakterschweine in jeder Schicht gibt."
Ottmar hielt dem Kälbchen Esemeralda eine Handvoll Klee hin. Zutraulich nahm das schon nicht mehr so kleine Tier das Futter an. Dann sprang kehrte es zu seinen Schwestern zurück und sprang mit diesen um die Wette in die Luft. Niemals hätte sich Ottmar vorstellen können, wie lustig junge Kühe waren, wie sie umhertollten und sogar Schmetterlingen hinterher liefen.
"Mir genügt mein Mühlingen, die große Welt da draußen, die kann mir gestohlen bleiben", nahm Ottmar den Faden wieder auf. "Aber ich fürchte, mit unserem Spielmann wird das mal kein gutes Ende nehmen. Der ist im Grunde auch so einer, der alles hat, was er wollte, sich damit aber nicht zufrieden geben kann. Deswegen braucht er uns als seine Freunde, die ihm zeigen, wie schön das Leben eigentlich ist."

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 29. Mai 2013, 03:06

Anke und ihre Milchkühe hatten sich gerade im Mühlingen eingelebt, als ein neuer Ankömmling die Schar der Dörfler vergrößerte: Franz´ neugeborene Tochter Tilla. Der kleine Wonneproppen war so dick, dass die Muhme Angela aus Freidorf ihn für Zwillinge gehalten hatte, als er sich noch im Mutterleib befand!
Franz strahlte in den ersten Wochen nach der Geburt eine Zufriedenheit aus, die man sonst gar nicht von ihm kannte, doch schon bald kehrte seine alte Geschäftigkeit zurück. Wie er eines Tages sein Weib dabei ablöste, über Tillas Wiege zu wachen, damit diese ein wenig dringend benötigten Schlaf nachholen konnte, winkte er Ottmar heran. „Ottmar, alter Freund, hör mir mal bitte zu“, sprach der Müller. „Die Kammer, in der du und Roswita untergekommen sind, die brauche ich nun selbst. Ich will mir Lehrbuben ins Haus holen, damit der fleißigste von ihnen später meine Tilla zur Frau nehmen und mein Erbe antreten kann. Ja, schau nicht so verdattert drein, hast du denn gemeint, es sei für immer? Schau dich um! Mühlingen wächst und gedeiht, jedermann hat sich sein eigenes kleines Nest gebaut und selbst das liebe Vieh bekommt einen großen Stall mit einem Fundament aus Stein. Da geht es doch nicht an, dass unser Schulze in einer winzigen Dachkammer haust! Was sollen denn die Nachbarn von uns denken, hm? Es wird Zeit, mein Bester, dass du ein eigenes Bauernhaus bekommst.“
So war es denn beschlossene Sache. Ottmar und Roswita würden ein schmuckes Häuschen mit einer Wiese davor beziehen.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Sa 1. Jun 2013, 01:22

Diese Fliederbüsche! Hübsch anzuschauen sind sie ja... aber allmählich werden sie zur Plage. Beinahe scheint es, als wuchere jeden Tag ein neuer irgendwo auf dem Hof. Und Enki macht es nicht gerade leichter. Treibt sich ständig bei unseren Nachbarn herum, mal hier, mal dort. Ich wette, der bringt die Samen an seinen Gewändern oder an den Stiefeln mit. Aber ich darf nicht bös mit ihm sein, immerhin hat er uns den neuen Pflug mitgebracht und vom Gold seines Vaters konnten wir Land hinzupachten, auf dem jetzt unser schönes Haus steht. Dennoch! Diese Büsche sind eine Last. Wär unser Dorfbrunnen so ein Wunschbrunnen wie in Enkis Geschichte, ich wünschte mir zumindest rosa Blüten an diese blöden Gewächse dran!

- Stoßseufzer der Roswita

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 5. Jun 2013, 01:25

In jenen Tagen hörte man von Mönchen, die übers Land zogen und den Menschen die Gnade verkauften. Sofern eine Sünde durch die Beichte vergeben war, so konnte der Mann von Welt einen Ablassbrief erstehen, der ihm zusätzlich auch noch die Strafzeit im Fegefeuer erließ. Die Voraussetzungen dafür waren streng geregelt und sorgfältig niedergeschrieben, sie zu verstehen konnten sich nur wenige rühmen. Das musste aber auch niemand, denn in der Praxis zählte nur die Frage, wieviele Münzen derjenige einzusetzen bereit war und wie schnell er sie aus dem Geldbeutel herausholte. Enki hörte man lautstark über derlei Praktiken wettern. So ein Mönch käme ihm nicht auf seinen Hof, egal, wie sehr er sich mit kleinen Gaben anbiedere!
„Dann ist es ja gut, dass ich mich nur auf der Durchreise zu euren Nachbarn befinde“, hörte der Spielmann da eine weiche, leicht amüsiert klingende Stimme. Sie gehörte – genau, einem Mönch.
Enki seufzte. Er hielt sich in letzter Zeit immer seltener in Mühlingen auf und ausgrechnet an dem einem Tag im Monat, an dem er das Dorf besuchte, musste so ein Kuttenträger vorbeischauen? „Das Fegefeuer“, schoss der Spielmann zurück, „ist kein Ort, sondern ein Zustand der Reinigung, soviel weiß jeder, der lesen kann! Es heißt, die Seelen nehmen diese Qualen freiwillig auf sich, weil sie im Angesicht Gottes gewärtig werden, wie unrein sie eigentlich sind! Erst, wenn sie genug Reue empfunden haben, ziehen sie ins Paradies ein. Das ist etwas Großes, etwas Wundervolles, das kann man nicht einfach abkürzen, indem man 150 Goldnuggets in eine Kasse wirft!“
Der Mönch lachte! Enki fühlte sich verspottet. Wenn ein Mann der Kirche lachte, wenn man über Gott sprach, dann war das in den Augen des Spielmanes ein deutliches Zeichen dafür, dass es diesen Leuten nur noch um ihr liebes Geld ging.
„Wer ist der gläubigste Mann in diesem Dorf?“ erkundigte sich der Mönch, während er sich die Lachtränen aus den Augen wischte.
Enki dachte nach. Sicherlich wusste er selbst am meisten über die Kirchenlehre, doch das machte ihn nicht fester im Glauben als einen Ungebildeten. Aber wer, außer dem nach Freidorf gezogenen Paule, hatte im letzten Jahr mit ihm über Gott gesprochen? Eigentlich kam da nur einer in Frage: „Ottmar… denke ich. Unser Schulze.“
Der Mönch erkundigte sich, ob dieser Ottmar wohl Grund habe, das Fegefeuer zu fürchten. Als Enki auf diese Frage nur eine starre Miene aufsetzte, nahm der Mann dies als ein deutliches „Ja“. Er bat den Spielmann, ihn zusammen mit Ottmar an der Mühlenbäckerei zu treffen. Dort führte er die beiden zu Trudis großem Ofen. Die Bäckersfrau holte gerade zwanzig Roffenbrote mit knuspriger Kruste heraus. Eine Wärmewolke entströmte dem Backofen. Der Mönch sah Enki die Augen zukneifen. „Um nichts in der Welt möchtest du da hinein, nicht wahr, mein Sohn?“
„So ist es!“ Der Spielmann trat einen Schritt zurück. „Aber wenn meine Seele doch glaubt, es nötig zu haben, dann muss es wohl sein. Ich werde nicht einfach den leichten Weg gehen…“
„Leicht, hm?“ Wieder lachte der Mönch, wie jemand, der mehr wusste als ein verstockter Schüler. Er wandte sich an Ottmar: „Wir sprachen über das Fegefeuer, guter Mann. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt?“
Ottmar blickte von einem zum anderen. Wohl war ihm nicht bei dieser Begegnung, fürchtete er doch, dass es sich noch um eine Spätfolge seiner in Unzucht verlebten Jahre handelte. Dem Mönch antwortete er, dass er es sehr gut könne. Das Fegefeuer sei wohl nicht so heiß wie die Hölle, aber schmerzhafter als das Feuer jedes Ofen auf Erden. „Schlimmer als sie alle zusammen“, bekräftigte er.
„Dennoch ist es ein Weg, den wir alles beschreiten müssen“, behauptete der Mönch. „Was, wenn du dich nun von dieser Pein freikaufen könntest?“
„Frei-kaufen? Mit Geld?“ Ottmar beäugte skeptisch den Backofen. Der war längst nicht abgekühlt. Die Hitze war stark, beinahe schmerzhaft, auf der Haut zu spüren. „Ich… äh… Sprechen wir über sehr viel Geld?“
Der Mönch schmunzelte, als er Auskunft gab: „Eine deinen Verfehlungen angemessene Summe, mein Sohn.“
„Himmelherrgottsakrament Maria und Josef!“ schrie Ottmar. Er gestikulierte wild mit den Armen. „Vergesst das! Von mir bekommt ihr nichts!“
Enki trat einen Schritt vor. Er versetzte Ottmar einen Stubbs, so dass dieser in Richtung des Backofens taumelte. Der Schulze verlor das Gleichgewicht und sah sich in den Ofen fallen wie die Hexe im Märchen. „Neiiiiiiiiiin!“ schrie er. „Hilfe! Heiß, heiß, heiß!“ Geistesgegenwärtig packte Enki den Freund an dessen Gürtel. Er zerrte ihn zurück, heraus aus der Gefahrenzone. Ottmar drehte sich um. Sein Gesicht war hochrot und sein Atem ging schwer. „Danke“, sagte er zu Enki, doch schon nach diesem einen kurzen Wort fuhr er zu dem Mönch herum. Wenn dieser sich einbilde, ihm sein Geld abluchsen zu wollen, so täusche er sich schwer, rief der Schulze! Bevor er das täte, hüpfe er lieber freiwillig nochmal in den Backofen.
„Oder eben ins Fegefeuer“, bemerkte der Kirchenmann zu Enki. „Siehst du jetzt mit eigenen Augen, was du mir vorhin an der Kutschenstation niemals geglaubt hättest? Obwohl er einen Vorgeschmack auf das Fegefeuer erhalten hat, schmerzt es diesen Mann noch mehr, sich von seinem Geld zu trennen. Glaub mir, das ist ein großes Opfer, das die Ablasskäufer zu bringen. Die Reichen kennen ihre dunklen Seiten und sie verspüren Furcht um ihr Seelenheil. So schlimme Furcht, dass sie sogar ihr Geld hergeben. Sie wählen nicht den leichteren Weg, sondern den schwereren. Mehr kann ich nicht verlangen.“
Der Spielmann schwieg lange. War der Mönch ein Träumer? Ein Menschenkenner? Enki kam zu dem Schluss, dass es keine Rolle spielte. Ob das, was der Kuttenträger ihm da als Lehre vermitteln wollte, nun stimmte oder nicht, war nicht von Bedeutung. Wichtig war nur, dass der andere es selbst glaubte. Er verkaufte den Menschen Ablässe, weil er es für ein gutes Werk hielt. Dieser eine Mönch, so erklärte der Spielmann daher, sei ihm in Zukunft stets willkommen.
Mit Bedauern erklärte der Mönch, dass er bereits anderswo erwartet werde. Als er die Kutsche bestieg, winkten Ottmar und Enki ihm noch lange nach, der Schulze reichlich verwirrt, Enki in nachdenklicher Stimmung. Er hatte die Chance verpasst, Mühlingen zu einem neuen Bewohner mit einem guten Herzen zu verhelfen. Aber vielleicht würde man sich eines Tages ja wiedersehen.

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Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 17. Jun 2013, 19:59

Zauberhafte Geschichte :D

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 18. Jun 2013, 21:26

Seit einiger Zeit sah man Enki den Spielmann nur noch selten in Mühlingen. Manche behaupteten, er habe ja sein Erbe zu verwalten, da sei es verständlich, dass er viel unterwegs sei. In Wahrheit streunte der Spielmann über Jahrmärkte und besuchte Menagerien. Ob wohl die flotte Anke etwas mit dem wieder erwachten Reisetrieb des Barden zu tun hatte? Enki hätte das natürlich vehement abgestritten…
Wohin er fuhr, stets hielt er die Ohren nach Gerüchten über mögliche weitere Unruhen in den deutschen Landen offen. Doch obwohl einige Panikmacher bereits das Wort „Bauernkrieg“ im Munde führten, ging das Leben in den meisten Gegenden seinen althergebrachten Gang.

In Mühlingen träumte Ottmar indessen von einer eigenen Weberei und Schneiderei, doch gab es sein Grund Boden einfach nicht her, zusätzlich zu Ankes Kühen auch noch Schafe zu halten. Überhaupt lachten ihn die Mühlinger aus, wenn er davon sprach, eine kleine Schafherde gleich den Rindern oder Schweinen im Stall zu halten. Ein Schäfer wanderte mit der Herde umher, punktum! Nur wanderte eben keiner an Mühlingen vorbei…
Flachs würde das Problem lösen, meinte Roswita. Die ehemals ausgelaugten und nun kräuterüberwucherten Felder eigneten sich bestens dafür. Der Gatte solle nur in diese Pflanze investieren, dann könne er auch Garn und Leinen herstellen lassen.
Doch Mühlingen war noch ein junges Dorf. Erfahrene Handwerker der Seilerszunft sahen keinen Grund, sich hier anzusiedeln.
„Wart´s ab, wenn sich die Zustände in der Grafenstadt weiter verschlechtern, denkt der eine oder andere ans Abwandern“, sprach Roswita zu ihrem Mann. „Man hört ja so einiges… angeblich verkaufen nur noch wenige Bauern an die Fliegenden Händler, so dass in der Stadt Mangel herrscht.“
„Ach, Rosi, die Sädter brauchen das Klagen doch wie unsereins sein täglich Brot. Aber lass uns ruhig mal in die Stadt fahren, unseren Räucherfisch verkaufen und uns wegen dem Flachs umhören. Dann werden wir ja sehen, wie es wirklich um die Grafenstadt bestellt ist.“

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