Die Dorfchronik von Mühlingen

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 23. Apr 2013, 23:42

Brief eines reisenden Handelsagenten an seine daheim gebliebene Schwester:

Auf unserer Fahrt von Groß-Muhstein nach Teichlingen kommen wir seit vergangenem Jahr an der neuen Mühle vorbei. Einige Marktbuden stehen am Fuße des Mühlberges, doch das Geschrei der Marktweiber wird vom Rattern des örtlichen Sägewerks übertönt. Lauter als dieses ist nur noch die Selbstverherrlichung der drei „Dorfgründer“, die ihrem Flecken Land doch tatsächlich einen Namen gegeben haben und wie über eine Ortschaft darüber sprechen! „Mühlingen“ nennen sie es, und behaupten, es sei ein Dorf mit Kutschenstation, wo doch jeder Narr sehen kann, dass es sich einfach nur um einen Haltepunkt am einzigen größeren Gebäude in der Gegend handelt. Gerade einmal dreißig Erwachsene und noch einmal ein Dutzend Kinder leben hier dauerhaft!
Die Station „Mühlingen“ gehört trotz ihrer Abgelegenheit zu den größeren, die ich kenne. Sie verfügt sogar über eine kleine Werkstatt, die von der Straße aus allerdings nicht einsehbar ist. Ein gebrochenes Rad ist somit, haha, kein Beinbruch mehr, meine Liebe!
Für das leibliche Wohl ist ebenfalls gesorgt: Wir Reisenden lassen es uns bei Topfkuchen und Wein gut gehen. Der Südhang des Mühlberges eignet sich wirklich gut für den Weinbau. Kein Wunder, dass sich ganz in der Nähe eine kleine Winzerei befindet. Seine Fässer bezieht der Winzer günstig von einem erfinderischen Kerl, der sich als Böttcher, Stellmacher und Zimmermann betätigt.
So genießen wir also die kurze Pause, während die Fuhrleute sich in der Garküche der Station mit Kohleintopf stärken, zu dem sie einen kleinen Schnaps hinunterstürzen. Und weil der so klein war, passen viele hinein… das Gegröhle der Männer macht den ohnehin schon herrschenden Lärm noch unterträglicher. Einen Spielmann haben sie hier übrigens auch, Gnade uns Gott!
Ich sage dir, angetan war ich nie von diesem Ort! Alles steht viel zu eng aufeinander und auf den Lehmwegen vor den Marktbuden drängen sich die Menschen schlimmer als in den Straßen der großen Stadt Bamberg! Und steht gerade einmal kein Mensch im Weg, so vermagst du keinen Schritt zu tun, ohne über ein Huhn zu stolpern.
Doch seit Neustem servieren sie in Mühlingen eine köstliche Forelle, frisch vom Grill und mit einem Salbeizweig gewürzt. Dazu werden Salbeifladen gereicht und dann denke ich, diese Stunde allein ist die ganz, mühevolle Reise wert gewesen!
Nach einem derart wonnevollen Mahl fällt es umso schwerer, sich wieder auf die harte Holzbank in der Kutsche zu setzen. Ich hege ja den Verdacht, dass es sich um dieselben Bänke aus Ahornholz handelt, auf denen wir am Ufer des Mühlteichs sitzend unsere Forellen genossen haben…
Wahrlich, derjenige, welcher dereinst eine komfortablere Reisekutsche erfindet, der sei sei gesegnet!

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 28. Apr 2013, 00:01

Noch immer grassierte der Aberglaube in Mühlingen. Feldarbeiter wie Handwerker gleichermaßen ergingen sich in allerlei selbsterdachten oder von Durchreisenden aufgeschnappten Ritualen, die die Satansbrut fernhalten sollten. Auch beobachteten sie einander eindringlich, ob der Nachbar oder die Nachbarin womöglich mit dunklen Mächten im Bunde sei. Dass die Arbeit unter diesen Umständen nur schleppend voranging, war nicht zu vermeiden.
In dieser Lage gelang es Enki, einen Bildhauer zu überreden, dem Dorf ein Standbild anzufertigen. Der Künstler, der sich seine Dienste sonst in Gold entlohnen ließ, erklärte sich bereit, für eine Portion Gänseklein, Setzlinge einer prächtigen Trauerweide sowie einen Quader von dunklem Marmor für die Mühlinger zu arbeiten. Es war nicht leicht, all diese Dinge aufzutreiben, doch schließlich gelang Roswita ein schmackhafter Braten, Ottmar pflegte die Setzlinge, bis sie kräftig genug für den Transport waren und Enki zerschlug kurzerhand die im Mühlinger Boden gefundene Teufelsstatue, um dem Bildhauer den Sockel unterzujubeln. So machte sich der Bildhauer an die Arbeit und schon bald erreichte den Spielmann ein Schreiben, das Werk sei vollendet.

Alle Dorfbewohner fieberten alle der Enthüllung entgegen, die am heiligen Sonntag stattfinden sollte – vorausgesetzt, die Kutsche mit dem Künstler käme pünklich an.
„Dass unser Hof einmal so schön aussehen könnte…“ seufzte Roswita. Es war ja nicht nur die neue Statue aus reinem weißen Stein, die bald den freien Platz neben dem Dorfbrunnen zieren würde, nein, die Mühlinger hatten ihren Markt rundum freundlicher gestaltet. Bohlen aus Holz verliefen nun zwischen den Ständen und schützten das Schuhwerk der Kunden vor dem stets leicht morastigen Untergrund.
Die Kutschenstation hatte ein neues Gebäude südlich der Straße erhalten, das alte Haus wurde dem Zimmermann übereignet, damit er seine Modelle und Rohlinge nicht mehr im Hof und auf der Straße stapeln musste. Überhaupt wirkte nun alles viel aufgeräumter und sauberer.
Enki stand bei dem Ehepaar Ottmar und Roswita, während alle auf die Ankunft der Kutsche warteten. Guter Dinge plauderte der Spielmann, er habe Gerüchte gehört, Nachbar Saloniki wolle nun auch in den Hafen der Ehe einlaufen. „Hoffentlich wird das junge Paar auch so glücklich wie ihr!“
Roswita hüstele. Ottmar verschluckte sich.
„Was ist denn? Ihr beiden seid doch schon so lange glücklich verheiratet.“
Betretenes Schweigen antwortete ihm.
„Moment mal!" Enki richtete seine Laute wie ein Schwert auf das Paar. "Ihr seid…“
„Glücklich!“ rief Roswita.
„Aber nicht verheiratet“, murmelte Ottmar, so dass es nur der Spielmann hören konnte.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 28. Apr 2013, 15:47

Das Mühlinger Volk war voll der Erwartung. Noch in dieser Stunde würde der Bildhauer Ruwen eintreffen! Schon hörte man das Rumpeln der Räder der Postkutsche auf dem Feldweg. Doch das vertraute Geräusch klang an diesem Tag anders: gequält und mühsam.
Dann kam die Kutsche in Sicht. Oder besser: Das, was von ihr übrig war. An vielen Stellen war das Holz verschmort, als hätte jemand Brandpfeile darauf abgefeuert. Einem der Räder fehlten die Speichen, so dass es ein Wunder war, dass es der Beanspruchung stand hielt. Die Kisten und Körbe, in denen das Transportgut lag, fehlten vollständig. Ihre Halterungen hingen nur noch locker am Wagen – jemand hatte sie mit Gewalt abgerissen.
Der Kutscher hing mehr in seinem Sitz, als dass er gesessen hätte. Um seinen Kopf lief ein blutgetränkter Verband, seine Augen waren halb geschlossen. Doch die Pferde kannten den Weg. Sie mussten nicht gelenkt werden und blieben von selbst an der Station stehen.
Ottmar sprang sofort vor und öffnete die Tür der Reisekutsche. Ruwen fiel regelrecht hinaus. Enki sprang herbei und fing den Mann auf. Ruwen war über und über mit blauen Flecken übersät, seine Kleidung hing in Fetzen, Schuhe, Jacke und Hut fehlten gar gänzlich. Der Künstler sah zu Enki auf und klagte: „Oh, junger Herr von Bachental, es ist so furchtbar! Ich habe Euch enttäuscht…“
Enki schüttelte unwirsch den Kopf. „Fasst euch, Mann!“ Er geleitete Ruwen zu einem kleinen Freisitz vor dem Weinkeller, an dem wöchentlich Verkostungen stattfanden. Gleich nebenan befand sich auch die Brennerei. Hier ließ er den Ärmsten Platz nehmen.
„Hier, nehmt ersteinmal einen Schnaps…“
„Danke! Vielen Dank, vergelt´s euch Gott!“
Nach und nach berichtete der Bildhauer, was ihm widerfahren war. Eigentlich war es ja offensichtlich: Räuber hatten die Kutsche überfallen und die Ladung geraubt, darunter auch die für Mühlinge bestimmte wertvolle Statue. Auch handle es sich um keinen Einzelfall. Der Bäuerin Christina war auf dem Weg zum Markt eine Ladung Forellen abgenommen worden und in Ruwens Heimatort hatten sich die Ganoven sogar bei Nacht eingeschlichen und einen Fahnenmast abgesägt, um an den Stoff der Flagge zu gelangen.
Enki zuckte jedesmal kurz zusammen, wenn er aufs Neue mit „junger Herr“ und „von“ angesprochen wurde, als sei es wesentlich schlimmer, wenn die Bestellung eines adligen Kunden verschwand, als die eines Mannes von gemeiner Geburt. Nun gut, der Adlige verfügte in der Regel über weitreichendere Vergeltungsmöglichkeiten…
„Wir müssen uns an die Büttel wenden“, meinte Ottmar. „Dazu sind sie ja da! Auf gar keinen Fall dürfen wir das Recht in unsere eigenen Hände nehmen. Selbstjustiz wäre eine schwere Sünde!“
„Ja“, knurrte Enki. „Und mit Sünden kennen sich unsere Mühlinger ja aus.“
Der Spielmann deutete in die Menge. Die Engelsstatue war also abhanden gekommen, wisperten die Dörfler untereinander. Das konnte nur bedeuten, dass dieses Land tatsächlichlich verflucht war! Und diesmal blieb es nicht bei Flüstern, nein, diesmal griffen die Männer und Frauen nach allem, was sich als Waffe zweckentfremden ließ: Forken, Pflugschare, Sensen, Stuhlbeine und hier und wurde sogar ein Fassdeckel als Schild getragen. Als die erste tönerne Flasche flog, flohen Ottmar und Enki in die Brennerei. Der Dorfgründer schrie verzweifelt nach seiner Roswita, doch sie war nirgendwo mehr zu sehen.
War das Ende von Mühlingen gekommen?

Besten Dank für die Inspiration an den heutigen Tauschbug ;) Wofür sowas gut sein kann...

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 29. Apr 2013, 01:44

Dunkelheit. Im Keller der Brennerei war es so finster wie in einem Grab.
„Psst…“
„Hm?“
„Riechst du das?“
„…“
„Na?!“
„…Feuer. Sie haben Fackeln angeszündet.“
„Die wollen uns ausräuchern. In die Luft jagen!“
*Seufzer*
„Enki, hör mal zu! Ich lenke sie ab, dann huschst du durch das Kellerfenster hinaus und holst Hilfe!“
„Einverstanden.“
Dunkelheit. Das Klappern eines Fensters. Dann ein Scharren, als sich ein Männerkörper durch eine schmale Öffnung zwängte.
Ottmar war allein im Brennereikeller. Nach einer Weile fiel ihm auf, dass der Spielmann seine Laute zurückgelassen hatte. Dabei trennte er sich sonst nie von dem Instrument! Hoffentlich war das kein böses Omen…

Enki schlich über das nördliche, brachliegende Feld. Die wildwuchernden Sträucher und Kräuter boten nicht allzuviel Deckung, doch zum Glück für den Spielmann waren die Dörfler abgelenkt. Um einen Scheiterhaufen hatten sie sich versammelt, was nichts Gutes verhieß! Nun, zumindest schickten sie sich nicht an, ihre Fackeln auf die Brennerei zu werfen. Doch war das nicht Roswitas Haube, die da auf einer hervorragenden Rute des Holzhaufens hing?
„Oh, nein… die werden doch nicht… Die wollen Roswita als Hexe verbrennen!“
Schon wollte Enki sich offen zeigen und eine flammende Rede halten, die Roswita – hoffentlich - vor dem ihr zugedachten Schicksal retten würde, da bemerkte er ein Glitzern in einem Gebüsch am Mühlteich. Nicht silbrig, wie die Flanken der jungen Forellen, sondern goldglänzend. Der Spielmann schlich näher, bis er erkannte, was da blinkte: Die Plakette am Sockel einer Statue! Eine zierliche Engelsgestalt ragte über den Busch hinaus. Mit dem Bogen ihn ihren Händen wirkte die Figur zwar eher wie ein kleiner Liebesgott, aber die irdische Liebe war ein Teil der himmlischen, so dass der Spielmann fand, dass es schon irgendwie passte. Er würde das später genauer nachschlagen können.
Bewundernd strich Enki über den reinweißen Stein der Statue. Wie war sie bloß hierher gelangt?
Ein Keuchen und Stöhnen mochte des Rätsels Lösung bergen. Etwas Lebendiges schien hinter dem Fliederbusch seinen letzten Schnaufer zu tun. Vorsichtig schob Enki die Zweige zur Seite. Dahinter kam eine verwahrloste Gestalt zum Vorschein, ein abgemagerter junger Mann in zerschlissener, mehrfach geflickter Kleidung. Von einem als Gürtel dienenden Hanfseil hing eine Keule, in die der Besitzer mehrere Nägel geschlagen hatte. Doch die Kraft, seine Waffe einzusetzen, fehlte dem Kerl. Völlig erschöpft und unfähig, sich fortzuschleichen, lag auf er seinem Gesicht.
„Hast du etwa die Staue hierher geschleppt?“ fragte Enki. „Und wer bist du überhaupt? Haben dich die Räuber gefangen gehalten, die uns bestohlen haben?“
Als der Fremde eine menschliche Stimme hörte, drehte er sich auf den Rücken. Sein Mund war kaum zu erkennen, nur der Bart bewegte sich, als er antwortete: „Ich bin der Paule. Und´s is nich Recht vom Hauptmann, das Standbild zu behalten. Ihr braucht´s, um den Teufel auszutreiben, wie man hört. Musste´s zurück bring´!“ Der Mann lies sich von Enki aufhelfen. „Der Hauptmann wird wütend sein…“ klagte er dabei.
„Dann tritt ihm nicht unter die Augen“, riet der Spielmann grinsend. „Hab ich als Junge mit meinem Stiefvater auch so gehalten. Ich mache dir einen Vorschlag: Bleib hier bei uns in Mühlingen. Wir haben noch Feldsteine fortzuräumen und Baumstumpen auszugraben, da wird jeder Hand benötigt.“
Und so kam Mühlingen zu einem neuen Einwohner.
Enki und der ehemalige Räuber lenkten die Aufmerksamkeit der Dörfler nun auf sich.
„Seht mal alle her!“ rief der Spielmann. „Hier ist er doch, unser Engel! Er wurde nur auf dem Weg zu uns aufgehalten, weil er noch eine verirrte Seele zur Gemeinde zurückbringen musste.“
Die Mühlinger scharten sich um die Statue. „Wie ist die denn hierhergekommen?“ fragten sie. Dass Paul das Standbild getragen haben sollte, wollte niemand so richtig glauben. „Enki“, sprachen die Leute, „du spinnst mal wieder rum! Inner Geschichte muss das auch so sein, aber doch nicht in Wirklichkeit! Wahrlich, ein Mann allein kann so eine schwere Statue gar nicht getragen haben, noch dazu so ein verhungertes Bürschchen wie der Paule! Nein, da muss ein Wunder geschehen sein!“
„Dann brauchen wir die Roswita wohl nicht zu verbrennen?“ warf jemand ein.
Enki seufzte nur leise.

So waren Roswita, Ottmar und der Spielmann also gerettet, ebenso das Standbild und auch Pauls Seelenheil. Lediglich der Traustatus des Paares Ottmar und Roswita blieb weiterhin ungeklärt. Doch zum Glück wusste ja niemand etwas davon… glaubte Enki zumindest.
(Dieses Kapitel spielt noch vor dem Gespräch mit Saloniki)

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 1. Mai 2013, 00:26

Die traurigen Reste der Reisekutsche waren zu Brennholz für die Schnapsdistille verarbeitet wurden und endlich, endlich durften die Erfinder-Gebrüder ihr neues Werk vorstellen: Die modernste, bequemste und schnellste Kutsche, vor der sich jeder fliegende Teppich aus dem Orient verstecken musste.
Enki starrte und starrte, konnte aber nichts Besonderes an dem Gefährt entdecken. Vermutlich musste man ein Kutschensport-Begeisterter sein, um so andächtig davor zu stehen wie die Mühlinger seit Kurzem vor ihrem Engelsstandbild.
Gleich auf der ersten Fahrt waren Ottmar und Roswita dabei. Wie abgesprochen haben sie vor, einen erkrankten Verwandten zu besuchen, in Wahrheit jedoch fuhren sie in aller Heimlichkeit zu ihrer Verehelichung.
„Am Ende verpassen sie noch ihren Hochzeitstag“, meinte Enki leichthin. „Der ist nämlich in Bälde. Wir sollten ein Fest vorbereiten, das wir abhalten, wenn die beiden heimkehren!“
Der Vorschlag wurde mit Begeisterung aufgenommen.

Während der Festvorbereitungen behielt Enki die Dorfbevölkerung genau im Auge.
Sein neuer Schützling Paule war als Spion nicht zu gebrauchen. Der ehemalige Räuber wusste sich leidlich zu verstecken und mit der Waffe umzugehen. Doch er hatte zu lange im Wald gelebt. Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen war ihm völlig fremd und selbst in einer ländlichen Gegend wie der um Mühlingen stach er als „Wilder in der Zivilisation“ heraus.
Die Einbindung des ehemaligen Räubers in die Dorfgemeinschaft wäre Herausforderung genug gewesen, doch nun hatte Saloniki den Spielmann darauf aufmerksam gemacht, dass er noch einen zweiten Wurm im Apfel in seinem Dorf haben musste, eine Person, die die abgergläubischen Ängste der Mühlinger gezielt schürte. Aber zu welchem Zweck?
„Wann hat das denn angefangen?“ erkundigte sich Paule eines Tages. „Weil, alle, die danach erst gekomm´sind, brauchter gar nich erst zu befrachen. Die könns nimmer nich gewes´n sein.“
„Als wir die Teufelssatue ausgruben“, erinnerte sich Enki. Er packte Paul bei der Schulter. „Meinst du… da wurde noch etwas anderes zu Tage gefördert? Etwas, das sich jemand unter den Nagel reißen möchte?“
Der Jüngere nickte heftig. „Na klar! Stellt euch doch ma vor, wenn alle vor dem „Teufelswerk“ hier fliehen oder sich gegenseitig anklagen, dann gibt´s bald kein Mühlingen mehr un der Unruhestifter hat freie Bahn, sich zu krallen, wasser möchte.“
Enki nickte nachdenklich.
Doch was mochte das geheimnisvolle Etwas sein? Eine Edelmetallader schied schon einmal aus, denn das Bergrecht im Lande war frei, und jeder konnte nach Herzenslust buddeln, solange jedermann nur einen kleinen Anteil an seinen Landesherrn zahlte. Ein Schatz hingegen, beispielsweise Steuergelder, die man aus Furcht vor einer anrückenden Armee vergraben hätte, solche Wertsachen waren mussten von den Pächtern natürlich abgeliefert werden.
„Naja“, meinte Enki. „Herumgerate hilft uns nicht. Haben wir ersteinmal den Unruhestifer ausfindig gemacht, wird sich schon finden, was ihn angetrieben hat.“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 1. Mai 2013, 21:00

Der Gedanke an einen möglicherweise um die Mühle herum versteckten Schatz ließ Enki nicht los. Auf dem Heimweg nach Mühlingen lies er seinen Blick über die Felder schweifen, ob er wohl einen Hinwies entdeckte, wo es sich zu suchen lohne. Mittlerweile hatte sich der Boden ein wenig erholt, so dass bereits wieder Roggen und die ersten Kartoffeln wuchsen. Der Anblick zauberte ein Lächeln ins Gesicht des Spielmannes, denn er erinnerte ihn an die Anfangstage Mühlingens.
Bild
Unterdessen stand Meinrat, der Fliegende Händler, an der Handelsstation am Dorfrand. Franz der Müller und seine Angetraute Trudi, die Bäckerin, waren ins Feilschen verstrickt. Doch der Kaufmann hob lediglich abwehrend die Hände. Mehr als 10 Taler könne er für den Sack Roggenmehl beim besten Willen nicht geben, erklärte Meinrat.
„Die Kunden an unseren Marktständen zahlen 50!“
„Ja… schon… Aber es gibt nicht genügend Kunden hier im Umland, nicht wahr? Der Markt ist übersättigt, wie wir Kaufleute sagen. Das bedeutet, es gibt mehr als genug Mehl, um alle satt zu bekommen. Weitaus mehr, als ihr verarbeiten oder verkaufen könnt.“
Franz seufzte. Der andere hatte ja Recht. Verkaufte er nicht an Meinrat, würde das Mehl verderben. Dabei befand sich Trudi doch in gesegneten Umständen und die Muhme Angela aus dem Nachbardorf hatte gemeint, es könnten Zwillinge werden! Die Familie brauchte jetzt wirklich jeden Pfennig.
„Schlag ein, Meister Franz“, forderte Meinrat den Müller auf. „Dann bekommst du einen guten Rat obendrauf: Versuch dein Glück woanders, verschwende deine dir vom Herrgott geschenkte Zeit nicht in diesem Kaff! Dein Bub oder dein kleines Madel werden es dir einmal danken.“
Nachdenklich nickte der Müller. Es erschien vernünftig, dem Dorf den Rücken zu kehren. Möglicherweise war der Boden wirklich verflucht, oder auch nicht, darum ging es gar nicht. Die anderen Dorfbewohner glaubten daran und dadurch wurde es zur Wahrheit.

Meinrat aber lachte sich ins Fäustchen! Nachdem er nun die abergläubige Furcht der Dörfler genügend geschürt hatte, würde es ihm ein Leichtes sein, sie alle zum Fortziehen zu überreden. Der Müller schien ja bereits drauf und dran zu sein, den Rucksack zu packen.
Wenn erst die Mühle leer stünde, das Wahrzeichen des Ortes, dann wäre es aus mit „Mühlingen“. Ja, dann wäre die lästige Konkurrenz so gründlich aus dem Weg geräumt wie die Reste der uralten Römerstraße. Danach würde er sich die anderen neuen Dörfer vornehmen, die die Dreistigkeit besessen hatten, eigene Marktbuden aufzustellen. Wie hatte der Herr Graf nur jemals zulassen können…
Der Kaufmann schlug sich auf den Mund, als er bemerkte, laut vor sich hin gesprochen zu haben. Er schaute sich um – nein, niemand hatte etwas gehört. Nur er, der tagein tagaus an der Handelsstation stand, er sah und hörte natürlich alles, was im Dorf passierte.
Meinrat verschloss seine Kasse, lud seine erstandenen Waren auf und brach zu seiner nächsten Station auf.

Von Meinrat unbemerkt hatte einer Mühlinger am Waldrand Vogelfallen ausgelegt und dabei das Selbstgespräch mitangehört: Paul.
Paule war wütend. Der Müller war gut zu ihm gewesen. Obwohl Franz er ein gebildeter Mann war, der viel von Zahnrädern und Hebeln verstand, war es ihm egal, wie jemand redete, solange derjenige sich nicht scheute, kräftig anzupacken.
Paule rang mit sich selbst. Sollte er Ottmar Bescheid geben? Oder Enki? Ach, was konnten diese beiden schon ausrichten, außer zu reden! Nein, hier musste gehandelt werden! Die Mühlinger sollten ihre Güter zurückerhalten, um die sie geprellt worden waren. Paule eilte in den Wald, um seinen ehemaligen Hauptmann aufzusuchen. Der Fliegende Händler sollte ein Wunder erleben, aber ein Blaues!

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Do 2. Mai 2013, 21:39

Franz konnte Enki beruhigen, er habe gar nicht die Anbsicht gehabt, Hals über Kopf aufzubrechen. Aber in Betracht zöge er Meinrats Vorschlag noch immer, denn der Kaufmann hatte das Problem ja richtig erkannt: Die möglichen Kunden teilten sich auf zu viele kleinere Märkte auf, so dass für jedes Dorf nur ein geringer Gewinn blieb. Enki solle gefälligst dafür sorgen, dass die Leute den Mühlinger Markt als den Besten erkannten und ihn öfter besuchten als die vierundzwanzig anderen in der Umgebung.
„Ich sehe keinen Grund, meinen Nachbarn die Kunden wegzulocken, damit du fetter leben kannst! Denn deren Untertanen haben auch Kinder und Enkel!“, fuhr der Spielmann den Müllermeister an. „Wenn dir bescheidener Wohlstand für alle nicht genügt, wenn du unbedingt im Reichtum schwelgen willst, tja, dann wirst du wohl etwas dafür tun müssen! Heb dir einen Teich aus und setz Karpfen hinein, oder fang an, unsere Forellen zu räuchern, damit wir sie nach Bamberg transportieren können!“
Franz blinzelte. Und dann gleich noch mal. Jesus, Maria und Joseph! Wie konnte jemand, der so weltfremdes Zeug daher redete, gleichzeitig so gute Einfälle haben? Sogleich lief er zu Trudi, fasste sie an den Händen und drehte sich mit ihr – sehr vorsichtig natürlich. „Wir können doch hierbleiben, wie du es dir gewünscht hast, Liebling!“ rief er erleichtert aus. „Nun wird sich alles, alles finden!“

Unterdessen tief im Wald:

Gunther der Grauling blickte auf den Gefangenen herab, der mit dem Rücken an eine Eiche gefesselt vor ihm saß. Stehen war unbequemer, aber ein sitzender Gefangener war lustiger, wenn ihn die Blase drückte…
„Und was machen wir jetzt mir dir?“ knurrte der Grauling. Dabei kitzelte er den Gefesselten mit der Spitze seines Säbels unter dem Kinn. „Wie man so hört, würde dein Ableben das Bauernvolk in der ganzen Grafschaft erfreuen! Da gibt´s nicht einen, der Lösegeld für dich berappen wollte!“
Meinrat zuckte zusammen.
„Selbst Paul, dieser diebische Hund, der sich am Beutegut vergriffen hat, bevor es gerecht aufgeteilt werden konnte, hatte Freunde“, fuhr der Räuberhauptmann fort. „um dich wird mal keiner trauern.“
Gunther stopfte seinen blanken Säbel zurück in die breite Schärpe, die ihm als Gürtel diente. Was in den Paule gefahren war, würde er nie verstehen. Hatte der also die gestohlene Engelsstatue zurückgebracht. Naja, so´n bisschen Religion packte wohl jeden irgendwann mal. Das hätte nach einer zünftigen Strafe nach Räuberart gerade noch so noch verziehen werden können. Aber mit nem Tipp aufzutauchen, wo ein voll belad´ner Händlerkarren durchkommen würde, und dann allen Ernstes zu erklären, er wolle irgendwelche Mehlsäcke zurück in so ein Kuhdorf bringen um dann dort zu leben… BENUTZEN hatte das ehemalige Bandenmitglied Gunther den Grauling wollen!
Voller Wut riss der Räuber seine Waffe erneut aus der Schärpe. Mit Schwung schlug er die Klinge gegen den Baum, an den Meinrat gefesselt saß. Das tat weder dem Säbel, noch dem Baum oder dem Gefangenen gut, dafür aber Gunthers Laune.
„Ich… ich weiß nicht, was du mit mir machen wirst“, stammelte der Kaufmann. „A… aber ich… ich tu alles… was du sagst… wenn du mich am Leben lässt!“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Fr 3. Mai 2013, 22:30

Was Meinrat und der Räuberhauptmann an jenem Tag aushandelten, blieb auf lange Zeit deren Geheimnis. Auf jeden Fall sah man den Kaufmann danach nie wieder in der Gegend. Von seinen Ersparnissen eröffnete er ein Geschäft in der nächsten Stadt. Von Überlandreisen, gar durch den Wald, wollte er nie wieder etwas hören.
Andere Fahrende Händler füllten die entstandene Lücke. Wie Schmeißfliegen auf einem Misthaufen schwirrten sie am Rande der Dörfer umher. Doch die Mühlinger hatten wertvolle Erfahrung aus der Episode gezogen und würden sich nicht so schnell wieder manipulieren lassen. Es darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass sie zeitlebens ein wenig abergläubiger blieben, als die Bauern anderswo. Kurz nach den hier geschilderten Ereignissen legten sich Ottmar und Roswita Schweine zu, denn die bringen ja bekanntlich Glück!

Gunther der Grauling lernte, dass man eine Kuh nur einmal schlachten, aber oft melken konnte. Er ging dazu über, die neuen Händler um Wegzoll zu erpressen, anstatt sie komplett auszurauben. Wenn Gunther kein Geld bekommen konnte, dann beschlagnahmte er einen Teil der Waren, die er dann teuer an Meinrat verkaufte. Denn das hatte der Kaufmann auf eine Bibel schwören müssen, bevor ihn die Räuber freiliesen: Dass er von nun an als Hehler für die Banditen arbeiten würde.
So trieb Gunther weiter sein Unwesen im Wald. Aber wehe jeder anderen Bande, die sich an „seinen“ Kaufleuten vergreifen wollte! Da kannte der Grauling keine Gnade und jagte sie zum Teufel. Daher konnte man sagen, dass durch die Räuberbande eine zwar nicht ganz legale, aber dafür streng durchgesetzte Ordnung in die Grafschaft einzog.
Das einfache Volk freute sich, wenn es davon hörte, dass wieder ein reisender Händler geschröpft worden war, denn diese waren nicht sehr beliebt. Nach jedem Überfall boten die Fliegenden Händler noch weniger Geld für die von ihnen aufgekauften Waren, da sie ja ihre Verluste irgendwie kompensieren mussten. Aber niemand verkaufte mehr an sie.
Die kleinen Märkte wie der von Mühlingen und Saloniki flourierten in jenen Tagen. In den Städten aber machte sich Unruhe breit, denn die Städter waren ja auf die Lieferungen aus dem Umland angewiesen. Da nun immer weniger Gutsherren die Fahrenden Händler bedienten, herrschte Mangel an Waren aller Art…

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 5. Mai 2013, 16:56

Die Nöte der Städter blieben - vorerst - ohne Auswirkung auf die Mühlinger. Diese hatten mit ihren eigenen zu kämpfen, die oftmals gerade dann zuschlugen, wenn das Leben doch eigentlich hätte schön sein können.

Aller vier Monate musste Ottmar die Pacht für das Land bezahlen, das er mit Roswita und Enki bewirtschaftete. Teile geschah das in Silber, teils in Naturalien wie den mittlerweile ausgewachsenen Schweinen, die sich zu ausgemachten Prachtsäuen entwickelt hatten.
Den Grafen persönlich traf Ottmar dabei nicht, wohl aber dessen Neffen, einen leutseligen Mann in Enkis Alter. Das Gespräch kam auf den geplanten Karpfenteich und die Fischräucherei in Mühlingen. „Da liegt viel Arbeit vor euch“, sinnierte der gräfliche Erbe. „Wart mal, Ottmar, ich muss das mit meinem Oheim besprechen!“
Dass der Edle Anteil am jüngsten Unterfangen der Mühlinger nahm, freute Ottmar sehr. Insgeheim hoffte er auf eine kleine Goldspende. Sicher verhandelte der Adlige mit seinem Onkel nur noch über die Höhe derselben!
Ottmar übte sich daher in Geduld. Sein Blick glitt über die Äcker und Weiden, auf denen leibeigene und hörige Bauern Frondienste verrichteten. Als der gräfliche Neffe wenig später zurückkehrte, winkte er fünf dieser Arbeiter heran. „Die nimmst du mit, Ottmar“, ordnete der Adlige an. „In diesem Jahr werden sie ihre Dienstzeit in Mühlingen ableisten und euch beim Aufbau eurer Fischwirtschaft unterstützen!“
Ottmar bedankte sich, verbeugte sich tief und lies die neuen Dorfbewohner dann auf den Karren austeigen, auf dem er die Schweine transportiert hatte. So ganz zufrieden war er nicht mit seiner Ladung. Es handelte sich um fünf Kinder höriger Bauern. Ihre Eltern waren dem Grafen nicht nach der Person, sondern nach dem Hof dienstpflichtig, daher hatten sie ihre jüngsten Familienmitglieder zur Arbeit geschickt, deren Arbeitskraft daheim am wenigsten vermisst wurde. Und nun hatte Ottmar die zwölf bis siebzehn Jahre alten Burschen und Mädel am Hals. Wer würde sie in Mühlingen wohl aufnehmen? Franz hatte sicher noch ein Eckchen und einen Haufen Stroh frei, aber gleich für fünf Menschen? Und dann noch Halbwüchsige! Die hielt man besser alle am selben Ort, wo man sie halbwegs unter Aufsicht hatte. Alles in allem erschien es am Klügsten, eine der alten Scheunen zu einem Gesindehaus auszubauen.

Bei seiner Rückkehr nach Mühlingen wurde Ottmar mit großen Hallo begrüßt. Nur Enki zeigte sich nicht begeistert, ja, regelrecht ablehnend, als er erfuhr, um wen es sich bei den Neuankömmlingen handelte.
Ein Gesindehaus wollte Ottmar also bauen! Eines wie jenes, in dem Enki aufgewachsen war… als Sohn einer Magd, Kind der „ersten Nacht“, von seinem Stiefvater gehasst, von seinem leiblichen Vater ignoriert. In den Augen seines Erzeugers, des Barons von Bachental, stellte das Gesindehaus nur einen weiteren Stall dar, in dem tumbes Vieh hauste und vermehrt wurde.
„Das waren wir nur, Vieh, und selber hat er in einer Burg gelebt, und die freien Bauern in schönen Häusern, aber wir schliefen eingepfercht wie die Sträflinge im Kerker von Bamberg!“ erklärte Enki aufgeregt. „Und warum? Aus keiner anderen Schuld als unserer Geburt!“
Der plötzliche Ausbruch des anderen verwunderte Ottmar. „Willst du kein Spielmann sein?“ fragte er geradeheraus. „Ich dachte immer, das sei dein Lebenszweck!“
„Wie? Was? Natürlich will ich! Worauf willst du hinaus?“
Ottmar schüttelte belustigt den Kopf. Gebildet wie ein Kirchenschreiber, aber manchmal soooo begriffstutzig war sein Freund! Daher musste er weiter ausholen: „Was wäre denn aus dem kleinen Enno-Kilian von Bachental, dem Baronssohn, geworden? Diplomatie statt Abenteuergeschichten, Verantwortung übernehmen statt Reisen und Waffengang statt Laute. Du wirst es nicht wahrhaben wollen, aber die Herren arbeiten hart, wenn auch nicht mit ihren Händen. Und regelmäßige Arbeit ist, verzeih, mein Freund, deine Sache nicht. In der Burg deines Vaters wärst du nicht glücklich geworden.“
„Meinst du wirklich? Ich dachte immer, mit dem Geld und Ansehen des alten Bachentals im Rücken hätte ich es leichter gehabt als Künstler…“
Ottmar lachte schallend, aber nicht unfreundlich. „Künstler?! Geht es dir noch gut? Ein Ritter wärst du geworden, einer, den seine Holde nur deswegen erhört, weil sie seinen krächzenden Minnesang nicht mehr ertragen kann! Der Herr hat sich schon etwas dabei gedacht, als er dir deinen Platz beim Gesinde zuteilte. Nur, ob man auch dazu bestimmt ist, für immer dort zu verweilen, oder ob nicht ein anderes Schicksal auf einen wartet, das findet man erst heraus, wenn man es ausprobiert. Nimm mal an, dein Haus brennt. Mag sein, das ist der dir vorbestimmte Todestag, aber du wirst trotzdem versuchen, hinauszulaufen, denn du weißt es eben nicht.“
„Deine Worte klingen so einleuchtend wie ordnungsgefährdend“, schmunzelte Enki. „Lass sie nicht in der Kirche hören.“
Ottmar nickte. Dann drückte er dem Freund einen Hammer in die Hand, mit dem Hinweis, sich bitte beim Hausbau nützlich zu machen. Denn wenn er angesichts der ungeliebten Handwerksarbeit so richtig unglücklich sei, wie inspirierend wäre das wohl für den Spielmann! Auch diesem Argument hatte Enno-Kilian, genannt Enki, nichts entgegenzuhalten.

Das Gesindehaus wurde also gebaut – wenngleich nicht ganz so wie erwartet.
„Unsere Helfer sind doch im besten Lehrlingsalter“, behauptete Enki. „Daher habe ich einen Raum als Schule eingerichtet. In den Heimatdörfern dieser jungen Leute wird noch gewirtschaftet wie zu Adams und Evas Lebzeiten. Ich will ihnen beibringen, was wir in Mühlingen alles verbessert und über den Ackerbau gelernt haben. Die Dorfältesten werden sich nicht von modernen Methoden überzeugen lassen, aber sind unsere Lehrlinge erst einmal erwachsen und in ihrer Gemeinde angesehene Arbeiter, dann werden sie alles einführen, was sie aus Mühlingen kennen.“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Sa 11. Mai 2013, 23:35

Merkwürdiger Besuch
Ein Bericht von Ottmar Mühlinger

Heute erhielten wir Besuch von einem merkwürdigen Kauz. Wie der uns ausgefragt hat! Wie alt mein Weib und ich seien, als ob ihn das etwas anginge! Na, mein grimmiger Blick muss schon alles gesagt haben, denn er hat dann ganz schnell zurückgerudert und gar nichts mehr gesagt. Als uns das Schweigen peinlich wurde, forderten wir den Fremden auf, doch frei von der Leber weg zu sagen, was er denke, wir würden es ihm auch nicht übel nehmen. Da ging die Fragerei von vorn los! Wieviel verdient man so als Gutsherr? Im Jahr? Im Monat? Nach Abzug der Steuern und Abgaben? Ob wir Kinder hätten oder welche planten, wollte er wissen, und welche Anschaffungen wir noch in diesem Jahr zu tätigen gedachten. Dazu rasselte er gleich eine lange Liste mit Vorschlägen herunter. „Sieh dich vor, Otti-Spatz“, raunte mir mein Schatz ins Ohr, „gewiss ist das ein Hausierer! Ehe du´s dich versiehst, hast du schon einen Ochsenkarren, einen Kontrabass und ein Ofenrohr gekauft!“
Ich antwortete also, dass wir alles besäßen, was wir zum Leben benötigen und einen guten Teil dessen, was wir uns darüber hinaus wünschten. Wir seien zufrieden.
„Aha, ach so. Plagt Euch denn die…“ Der Mann wechselte ins Lateinische, was ich gar nicht verstand. Ich wollte aber auch nicht den Enki rufen, damit der es mir übersetzte, denn egal, was das für eine Krankheit sein mochte, ich fühlte mich gesund, von ein paar Genickschmerzen abgesehen. Gestern bei der Obsternte hatten die Knochen schon ein wenig gezwickt, aber das ist ja zu erwarten, wenn die Eisheiligen sich mit dem üblichen Kälteienbruch ankündigen. Der Fremde winkte ab. Auch er schien Glieder- und Muskelschmerzen für kein spannendes Thema zu halten. Hellhörig wurde er erst, als wir von unserer Hochzeitsreise in den Bachentaler Grund anfingen. Da wollte er alles d´rüber wissen! Vermutlich führe ihn sein Wegn ebenfalls in diese Richtung und wir freuten uns, dem Reisenden den einen oder anderen Tipp zur richtigen Vorbereitung, dem Verhalten vor Ort und den in etwa zu erwartenden Kosten geben. Am Ende bedankte er sich vielmals für die interessante Erzählung, drückte uns ein Päckchen in die Hand und sprang in die nächste Kutsche.
Wir betrachteten das Geschenk ein wenig misstrauisch. Dabei rieten wir herum, worum es sich wohl handeln mochte. Endlich hielt es Roswita nicht mehr aus und sie schlug den groben Stoff zurück. Die Abendsonne fiel durch das Fenster, und was soll ich sagen? In den letzten Strahlen des Tageslichts glänzten sieben Goldbarren!
„Das war ein Spion“, hauchte Roswita. „Ganz bestimmt war das einer!“
„Ach was“, lachte ich, doch ich fühlte mich nicht wohl dabei. Mein Schatz muss bemerkt haben, dass das Lachen nur aufgesetzt war. „Ich denke eher, das war ein junger Edelmann, der ein wenig Abenteuerluft schnappen will und sich als Wandergeselle ausgibt. Sieben Goldbarren sind für manchen Kerl ein Trinkgeld. Aber wenn´s doch ein Spion war, dann kam er sicher von Enkis altem Herrn, der wissen will, wie es seinem Filius ergeht.“
So sprachen wir uns gegenseitig Mut zu. Das Gold aber vergruben wir hinter dem Herzhäuschen und rührten es vorerst nicht an. In Freidorf wird ja nun bald Hochzeit gefeiert, aber das Geschenk für unseren Freund den Schultheiß kaufen wir lieber von dem Silber, das unser kleines Mühlingen reichlich abwirft.

(Und was steckt nun wirklich hinter dem Spion? Ich habe mir einfach überlegt, wie es sich für meine Spielfiguren anfühlt, wenn ich Umfragen für Gratis-Gold ausfülle.)

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