Die Dorfchronik von Mühlingen

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 5. Aug 2015, 22:52

Gerne doch :)

Einen Monat später gab es erneut ein großes Hallo in Mühlingen. Die Schweine waren da!
Die blauen Schweine, die Wolle gaben…
Entgeistert zahlte Katzmann Ottmar fünf Taler in die Hand. Er hatte mit dem Schulzen gewettet, dass derartige Wesen nur den bierseligen Träumen des Mönches entsprungen sein konnten, und wurde nun eines Besseren belehrt.
Doch wo Enkis enge Freunde einfach nur staunten, brachen die einfachen Mühlinger in blankes Entsetzen aus! Was war das schon wieder Hexenwerk in ihrem kleinen Dörfchen? Es konnte doch nur mit dem Teufel einhergehen, dass derartige Kreaturen auf Erden wandelten! Schon griffen die Bauern ihre Werkzeuge fester und die Kinder formten Wurfgeschosse aus Lehm…

Die einzigen, die sich von dem Aufruhr nicht anstecken ließen, waren die Schweine selbst, sowie die Familie des Schulzen. Ottmar, Roswita und Katzmann nahmen die Holzkäfige in Empfang. Dabei stellten sie fest, dass die wolligen Tiere sich gar nicht einmal so ungern streicheln ließen.
„Das wird den Kindern gefallen“, bemerkte Roswita, während sie hingerissen im weichen Schweinfell herumkraulte. Erst ein Blick in die Menge belehrte des Schulzen Weib eines Besseren.
„Ach du liebe Zeit…! Ottmar! Ich fürchte, anstatt der Schweine wollen die Leute uns über dem Feuer rösten, auf dem Scheiterhaufen nämlich!“

„Diese Tiere heißen Sumadijaschweine* und stammen von weit her“, erklärte Ottmar den Umstehenden. Er studierte die der Lieferung beigefügten Frachtpapiere, bevor er genauer Auskunft geben konnte: „Aus Serbien nämlich.“
„Ja, na und?“ riefen die Leute und: „Das will nichts heißen!“
Wer vermochte schon zu sagen, welche Untaten die Zauberer im Ausland anstellten? Eine widernatürliche Mischung aus Schaf und Schwein hatten sie in ihren Hexenkesseln erschaffen!

*Erst im 19. Jahrhundert wird das Sumadija Schwein in Ungarn mit Hausschweinen gekreuzt und zum Mangalitza Schwein.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Do 6. Aug 2015, 21:54

An der alten Römerstraße am nördlichen Dorfrand fand eine kleine Belagerung statt. Die Fuhrwerker, die Mühlingen die Sumadija-Schweine geliefert hatten, waren längst entlohnt und umgekehrt, doch bis – und ob überhaupt! – die Tierchen ihr neues Domizil beziehen würden, mochte noch einige Zeit und viel Unfriede ins Land gehen.
„So etwas wollen wir hier nicht!“ behauptete jemand.
„Was willst du nicht?“ schoss Ottmar zurück. „Ein Tier, das den doppelten Ertrag eines Schafes auf der Hälfte der Weidefläche bringt?“
„Hexenwerk…“
Schön und gut, bloß wie sollte man das durchsetzen? Wer immer als erster gegen die Monstren vorging, fing sich unter Garantie einen Nasenstüber durch die Müllerburschen, die Dorfbüttel oder die restlichen Befürworter der neuen Schweine ein. Das würde wehtun und dem eigenen Ruf nicht zuträglich sein. Nein, da unterstützte man lieber diejenigen, die sich vortrauten mit lautem Geschrei. Mochte doch jemand anderes den ersten Stein werfen…

Wie die Mühlinger so entschlusslos herumstanden, andererseits aber auch nicht weichen wollten, näherte sich der Mönch dem Menschenauflauf. Kaum wurden die Dörfler des geweihten Mannes gewahr, da teilte sich die Menge auch schon respektvoll. Nun würde sich alles zum Rechten wenden.
Doch wie entsetzt waren die Mühlinger, als „ihr“ Mönch ebenfalls begann, die fremdländischen Bestien zu streicheln! Konnte das mit rechten Dingen zugehen?
„Was habt ihr denn?“ wandte sich der Mönch an die Dörfler. „Habt ihr noch nie ein Wildschwein gesehen? Das sieht auch anders als ein Hausschwein aus, ohne dass ihr gleich Zeder und Mordio drum schreit. Weil er es in den Wald gesetzt hat, hat der Herrgott dem Wildschwein ein borstiges Fell gegeben, gegen die Kälte und zum Schutz vor Disteln. Das Hausschwein, das er Adam in den Pferch gesetzt hat, braucht natürlich kein solches Fell mehr. Und diese Tiere hier stammen ursprünglich aus den sumpfigen Wiesen im Serbenland, die ganz ähnlich unserem Gelände hinten bei den Fischteichen sind. Sie werden sich hier wohlfühlen.“

So ganz geheuer war es den Mühlingern dennoch nicht, als die Tiere nun zu den für sie vorbereiteten Gattern nahe des Kanalufers getrieben wurden. Doch der Kirchenmann hatte gesprochen, wie hätten sie da diskutieren dürfen?
Nur hier und da erhob sich eine leise Stimme des Zweifels und jemand meinte sogar: „Der Enki hätte gewusst, ob das stimmt mit den Wollschweinen. Der ist ja viel rumgekommen und konnte lesen wie ein Gelehrter!“

Verschämt kratzte sich Ottmar am Kopf. „Tut mir leid, Hochwürden“, meinte er zu dem Wandermönch (dessen Namen scheinbar immer noch niemand kannte). „Die Mühlinger waren schon immer ein abergläubiges und nicht vergessen stures Völkchen.“
„Ja, das ist mir nicht entgangen“, entgegnete der Mönch schmunzelnd. „Genau aus diesem Grund wurde ich ja hierher gesandt. Meine Aufgabe besteht darin, die Historie um diesen Hexenmeister zu studieren, der hier der Sage nach gewirkt haben soll, und gleichzeitig die örtliche Ausprägung des Volk- und Aberglaubens zu studieren.“
„Glaubt mir, da werdet ihr sobald nicht aus der Arbeit herauskommen!“
Versonnen schaute Ottmar zu der Engelsstatue, die im Zuge dies Wiederaufbaus ihren Platz gegenüber dem Lagerhaus gefunden hatte. Erinnerungen an alte Zeiten wurden wach… so fern, als hätten sich die Ereignisse jener Tage nur in einer Geschichte ereignet. Mit dem Abstand, den er seither gewonnen hatte, war es Ottmar nun gegeben, die Geschehnisse ohne emotionale Beteiligung wieder aufleben zu lassen, oder gar über Anlässe zu schmunzeln, die ihn damals gehörig belastet hatten. Natürlich war die Welt nicht immer nur schön, doch dem alternden Schulzen erschienen ihre Widrigkeiten zunehmend nichtiger. Nicht, dass er mit einem cherubgleichen Antlitz über den Dingen gestanden hätte, ganz im Gegenteil. Ottmar hing an seiner irdischen Existenz mit allen weltlichen Freuden. Weil ihm die Fragilität dieser Existenz zunehmend bewusster wurde, erschienen dem Mann viele Streitthemen den Ärger nicht mehr wert.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 11. Aug 2015, 13:52

Wäre es bei einer einzelnen Stimme gegen den Mönch geblieben, Ottmar hätte dem entsprechenden Knecht die ungeliebte Arbeit auf dem abschüssigen Feld zugeteilt, damit er sich überlege, ob er in Zukunft weiterhin derartig respektlos über den geweihten Mann sprechen wolle. Doch es wurde schlimmer.

Ottmars Gast hatte sich ja vorgenommen, die Gebräuche der Region und die Ausprägung des Volksglaubens im Lande aufzuschreiben. Dazu musste er mit den Dörflern sprechen, ihnen bei ihren Tätigkeiten zuschauen und schon auch mal tiefer mit seinen Fragen bohren. Wann immer der Neuankömmling die Mühlinger nach Handlungen aus dem dörflichen Alltag befragte, zogen Mann, Weib und Kind die Augenbrauen hoch. Die Dörfler tuschelten: Wie kann er das nicht wissen?
Zugegeben, mochte dann manch einer einwerfen, so ein Mann Gottes verbrachte ja einen Großteil seiner Zeit in der Schreibstube und beim Beten anstatt in einer bäuerlichen Handwerksstube, von daher müsse man ihn sein Unwissen nachsehen.
Jedoch bewies der Mönch selbst auf seinem ureigensten Gebiet Wissenslücken. So schien ihm völlig unbekannt, wie man die Kornsau zuverlässig entzauberte. Ja, selbst der Schweinegeist als solcher, der sich den letzten Drescher schnappte, schien dem doch angeblich so gebildeten Mann unbekannt zu sein. Hm. So gebildet konnte er dann wohl doch nicht sein.

Auch die Sage vom Heilige Georg lies er sich von den Dörflern erzählen, als habe er sie noch nie gehört. Ja, der Mönch fragte sogar eines der Dorfkinder, wie die Geschichte denn weiterginge. Zweifelnd schaute das Mädchen zu seiner Mutter auf. Wieso wusste ein Kirchenmann nicht, was Georg als nächstes getan hatte? Komisch war das, und auch ein wenig beängstigend.
Der merkwürdige Gottesmann bekreuzigte sich nicht einmal, wenn der dicke schwarze Kater auf dem Nachbardorf die orangeroten Mühlinger Schönheiten besuchen kam und dabei seinen Weg von links nach rechts querte! War es diesem Mann denn egal, dass das Pech über ein hereinbrechen würde? Verfügte er über keinerlei Gottvertrauen, um nicht zumindest darum zu bitten, das Übel möge von ihm abgewendet werden? Oder stand er gar unter dem Schutz einer ganz anderen Macht?!

„Ich glaube nicht, dass der Neue ein Teufelsbündler oder so etwas ist“, bemerkte eines Tages des Müllers älteste Tochter. „Er wird wohl einfach nur ein Hochstapler sein, der sich als Mönch ausgibt. Ein fortgelaufner Priesterschüler oder sowas.“

Und damit war es, nicht wieder rückgängig zu machen, ausgesprochen.

Anmerkung: Exakt mal so geschehen in unserer Rollenspielrunde, die Argumentation der Dörfler passt aber auch schön nach Mühlingen.

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