Die Dorfchronik von Mühlingen

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Sa 1. Nov 2014, 14:33

„Die Rolle ist dem Gauner wie auf den Leib geschneidert“, kommentierte Ottmar Enkis Auftritt aus Seeräuber. Der Schulze Mühlingens wollte noch mehr sagen, doch ein Hustenanfall hielt ihn davon ab. Fürsorglich, obwohl, sie wusste, dass die Atemnot ihres Mannes nicht vom kühlen Wetter, sondern dessen kaputten Lunge ausging, legte Roswita Ottmar eine wärmende Decke um die Schultern. „N… kch… ein!“ Erneut wurde Ottmar von einem Hustenanfall durchgeschüttelt. „Nein, wärm lieber du dich“ hatte der Mann sagen wollen. Roswita verstand auch ohne Worte, doch anstatt nun die Decke zurückzuziehen, kroch sie kurzerhand zu Ottmar darunter.
Enki beobachtete die kleine Szene aus dem Eheleben seiner Freunde von der Bühne aus. Das Muster auf Rowitas Decke verriet sie als ein Erzeugnis aus Westhafen. Eine Stunde lang durfte Enki hier oben den Seeräuber geben, der zwischen den Häfen segelte, Ottmar und Roswita hingegen hielten ein echtes Stück aus der Ferne hin den Händen.
Ich sollte wirklich nicht neidisch sein, dachte der Spielmann bei sich. Konnte er nicht zehn solcher Decken haben, wenn es ihn danach gelüstete? Doch das war es nicht, was er eigentlich wollte.
„Die Ferne“, deklamierte Enki in der Rolle des angeheiterten Enterhaken-Alf, „berührt man am besten von Nahem.“ Er legte seinen Arm um Katrina, welche die Braut von Westhafen spielte. Mit der rechten Hand spielte er an deren Halskettchen, mit der linken deutete er in den Himmel. „Aber dann ist sie ja nicht mehr fern. Deshalb muss ich immer weiter, und weiter und weiter…“
Während seiner Rede arbeitete sich der Seeräuber mit seiner Hand immer weiter am Gewand der Braut vor – bis ihm jemand mit einem Stock auf dieselbe schlug! Der Eldermann von Westhafen war erschienen, seine Geliebte zu retten! „Oh“, „Ah“ und „Zeigs dem Luderjahn!“ – Rufe erschallten im Publikum, denn für einen Moment hatten die Mühlinger vergessen, dass „Alf“ doch in Wirklichkeit ihr Freiherr war, gegen den derartige Rufe im Mund zu führen, sich nicht nur nicht schickte, sondern schlichtweg gefährlich war.
Enki leckte an seinen verletzten Fingern.
„Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie ich das jetzt genießen werde“, zischte ihm Thorben zu. Und Katrina? Die sah schmachtend von einem zum anderen, während die die Männer um sie fochten. „Diese modernen Bühnenstücke“, schlussfolgerte Enki für sich, „werden zu lebensnah für meinen Geschmack…“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 4. Nov 2014, 13:11

Sich zu dritt an den Händen fassend, verneigten sich die drei Hauptdarsteller Enki, Thorben und Katrina am Ende der Vorführung. Unter dem Beifall des Publikus mussten sie es wieder und wieder tun.
„Unser Herr Enki ist ein wahrer Künstler!“ fand so mancher Mühlinger am Ende der Vorstellung. „Nur mit dem Schwert war ihm der andere voraus.“
Enki lies diese letzte Bemerkung im Raum stehen. Seit ihm zuerst der kaiserliche Ausbilder und anschließend Gunther damals Fechtunterricht erteilt hatten, vermochte er sehr wohl mit der Klinge in der Hand seinen Mann zu stehen. Thorben hingegen hatte den „Fecht“stil eines Schauspielers gemeistert, der zwar eindrucksvoll aussah, ihm in Ernstfall jedoch binnen weniger Sekunden den Kampf und womöglich auch sein Leben hätte verlieren lassen.
„Einen letzten Witz noch, meine Freunde?“ neckte Enki die beiden Fahrenden. „Ich kenne einen guten über einen Spielmann, zwei Gaukler und einen Freiherrn…“
„Lass es gut sein!“ wisperte Katrina zurück. „Du hättest dich im Wagen verstecken sollen, anstatt auf der Bühne herumzuflanieren! Was, wenn herauskommt, dass du den Mühlinger Herrn überfallen und entkleidet hast? Dann werden wir als deine Komplizen mit angeklagt. Und als Fahrende, das weißt du genau, steht uns kein Prozess, sondern gleich das Urteil zu!“
„Eben weil ihr das fürchtet, müsst ihr euch den Witz anhören“, betonte Enki. „Ich denke, Roswita und Ottmar sollten ihn euch erzählen.“
„Gott bewahre!“ wehrte sich Thorben. „Der Schulze sollte als allerletzter von deinem Streich erfahren!“
Doch Enki war unerbittlich. Zu dritt gesellten sie sich dem alten Ehepaar zu. Enki berichtete seinen Freunden, was sich auf seiner Heimreise von Freidorf zugetragen hatte. „Aber der Freiherr von Mühlingen, das ist doch Enki selbst“, entfuhr es Roswita an während der Erzählung.
„Er ist es?“
„Ja – aber wie denn das?“
„Völlig egal“, behauptete Enki. „Aber da ihr die Wahrheit nun kennt, müsst ihr nicht mehr in Sorge um meine oder eure Unversehrtheit leben.“
Unschlüssig, ob sie Enki für sein Schweigen verprügeln oder ihm eine Krone verleihen sollten, entschieden sich die Gaukler dafür, lieber noch dem Bier zuzusprechen, bevor sie am nächsten Tag ihre Reise wieder aufnehmen würden. Als dann auch noch Katzmann mit Enkis Pferd im Dorf erschien, befand sich für den Moment alles wieder im Lot.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 30. Nov 2014, 03:19

Grafschaft Bachental.

Der alte Bachentaler hatte seine Kinder geladen. „Ein“geladen hieß es in dem Schreiben, dass jedem ins Haus geflattert war, „Vor“geladen traf es wohl eher. Da saßen Lisbeth, Enno-Kilian und Amadeus nun zu dritt am ihrem Vater gegenüberliegenden Ende einer langen Tafel und ließen es sich schmecken: Halloweenschweingulasch aus Mühlingen, feinste Trüffelpastete von Lisbeths Gut und den muntermachenden Türkentrank von Amadeus´ Lieferanten. Dem Bachentaler war es wohlgefällig. Er sonnte sich in dem Wissen, wie weit er es im Leben gebracht hatte: vom Baronsspross zum Grafen und Erzeuger dreier sehr erfolgreicher Kinder. Lediglich eine Angelegenheit trübte dem alternden Adligen seinen Ruhestand: „Die Kaufleute“, so sprach er zu seinen Kindern, „sind heutzutage wohlhabender als unsereins. Wann werden sie gar die Gesetze im Land machen?“
„Früher als jedermann lieb sein kann“, erwiderte Enki nach kurzem Nachdenken. „Auf meinen Reisen habe ich es mehr als einmal miterlebt: Die Reichsten, die alles für sie Erreichbare erreicht haben, verlangt es nach den Privilegien des Adels. Sie stacheln das Volk auf, nutzen dessen Unzufriedenheit aus und lenken dessen Unmut ihn ihnen dienliche Bahnen.“
„…und jedesmal ist es mit enormen Kosten verbunden, diese Mobs niederzuschlagen“, ergänzte Lisbeth.
„Eben, eben“, lies sich der Graf vernehmen. „Deswegen will ich es den Handelsherren nachtun.“
Von Enkis Platz war ein leises Kichern zu vernehmen. „Ich ärgere mich über die Dorfkinder daheim, verfiele aber nie im Leben auf den Gedanken, wie diese zu werden“, flüsterte der mittlere Sprössling seinem Halbbruder zu. Amadeus fiel ins Lachen des Bruders ein.
„Deswegen verwaltet ihr beiden auch nur kleine Dörfer, während ich noch auf dem Grafenthron sitze!“ versetzte der Graf. Enki und Amadeus zuckten zusammen. Das Gehör ihr des Grafen schien demnach von keinerlei Alterserscheinungen beeinträchtigt zu sein!
Der Graf gestikulierte in die Runde. „Ich sage euch, wir müssen von den Kaufleuten lernen, damit sie uns ausbooten – im Wortsinn, mit ihren Koggen!“
Kurzum, eines seiner Kinder sollte als Handelsagent der Grafschaft mit einem erfahrenen Hansekapitän die Küste entlang segeln, die Lage in den anderen Orten erkunden und wenn möglich vorteilhafte Verträge abschließen. Jemand, dem der Graf Erfolg zutraute, doch gleichzeitig auch jemand, dessen Verlust an Piraten oder Unwetter er im schlimmsten Fall allerdings verschmerzen konnte. Das schloss Amadeus schon einmal aus (in Kategorie 2, meinte Enki, in Kategorie 1 ebenfalls, behauptete Lisbeth).

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 7. Apr 2015, 22:27

Einige Wochen später befand sich Enki als frischgebackener Handelsagent der Grafschaft Bachental auf hoher See. Lustig ging es an Bord der Handelskogge „Blauschwinge“ zu, doch merkwürdigerweise wollte sich bei Enki keine rechte Freude an der Reise einstellen. Immer wieder ertappte er sich dabei, sich auszumalen, wie es wohl gerade in Mühlingen, Freidorf und Bamberg zugehenh mochte.
„Seltsam“, sinnierte der Spielmann. „Mein ganzes Leben lang war ich unterwegs, zu Lande, zu Wasser, ja, sogar hoch zu Ross, wenn es sich nicht vermeiden lies. Nie habe ich Heimweh verspürt. Noch nicht einmal auf Reisen, die weitaus länger waren als diese!“
Seine ungewohnten Gefühle räumten den letzten Zweifel aus: Der ehemalige Spielmann fühlte sich nun in Mühlingen zuhause. Doch mitten in die schönste Selbstfindungsphase platzte eine Gruppe Männer, die für derlei Feingeistigkeiten in der Regel keine Sympathie aufbrachten:

PIRATEN!

„Piraten!“ so schallte es über das Deck, „Es ist die Schwarze Möwe!“ und „Lauft! Lauft um euer Leben!“
Um den Passagier herum brach das reinste Chaos aus. Matrosen suchten Deckung vor den zu erwartenden Kanonenschüssen, andere duckten sich vor dem Bootsmann, der versuchte, jedem einen Eimer zum Löschen eventueller Brände in die Hand zu drücken, und der Kapitän schließlich war bemüht, die Passagiere in das festungsartig ausgebaute Heck in Sicherheit zu bringen. Mehrfach wurde Enki angerempelt und um die eigene Achse geschleudert. Der Mann verstand die Welt nicht mehr. Wieso verhielt sich jedermann, als sei das Gefecht bereits verloren? Ja, wieso stand denn überhaupt ein Kampf an? Besaß die „Blauschwinge“ nicht mehr als genug Kanonen, um selbst dem dreistesten Seeräuberpack den kalten Angstschweiß ausbrechen zu lassen?! Die Rohre sollten das Gesindel wirkungsvoll abschrecken, so hatte man dem Passagier erklärt!

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Do 9. Apr 2015, 14:35

„Das ist völlig unmöglich!“ rief der Spielmann aus. „Noch NIE, und damit meine ich niemals seit der Zeit des großen Pompeius, wurde ein Schiff, das derart wehrhaft ist wie das unsere, von Seeräubern angegriffen!“
Jedoch, das Heraufbeschwören des antiken Piratenjägers half den Matrosen der „Blauschwinge“ nicht im Geringsten. Drei beherzte Schuss seitens der Piraten später lag der Hauptmast der stolzen Handelskogge längs über deren Deck und das Schiff trieb manövrierunfähig auf dem Wasser.
Hilflos mussten die Matrosen mit ansehen, wie das räuberische Pack sich ihrer Kogge in kleinen Booten näherte und sich gleich einer Horde hungriger Ratten über das Deck verteilte. Anstalten, die Angreifer mit Enterhaken von der Bordwand fernzuhalten oder gar Gegenwehr zu leisten, machte niemand. Der Kapitän hatte es ausdrücklich verboten. Seine Erfahrung hatte den Mann gelehrt, dass Widerstand lediglich dazu führte, dass die Piraten hinterher ihre Wut an den Handelsleuten ausliesen. Verhielt man sich hingegen ruhig, durfte man hoffen, mit lediglich ein paar Sack Korn, einigen blauen Flecken und einem wunden Hinterteil weitersegeln zu können.
So standen die Dinge nun einmal, nur Enki, der vermochte es kaum zu fassen, was um ihn herum geschah.
„Wieso…“ ächzte er. „Wieso haben wir das Geld für die Kanonen bezahlt, wenn wir nicht einen einzigen Schuss abgefeuert haben? Beim Heiligen Nikolaus, wir hätten das Lumpengesindel womöglich verscheuchen können!“
„Ja, wieso wohl?“ hörte er da eine raue Stimme hinter sich die Frage wiederholen. „Komm mit, ich will´s dir zeigen. Weil du Mut gezeigt hast.“
Enki fuhr herum und starrte dem gegenerischen Kapitän ins Gesicht. Selbst durch dessen dichten, fettigen schwarzen Bart war das Grinsen nicht zu übersehen. Die Augen des Seeräubers funkelten wie die eines Mannes, der es genoss, mehr zu wissen, als sein Gegenüber. Ein kluger Mann also, ein erfolgreicher Gauner, das gab Enki Hoffnung. Denn die klugen Leute, die sich noch dazu gern reden hörten, die gaben einem schlauen Spielmann die Möglichkeit, sie durch List zu überrumpeln.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Sa 11. Apr 2015, 22:59

Noch immer überrumpelt von der blitzschnellen Übernahme der „Blauschwinge“ folgte Enki dem Piraten über das Deck der Handeslkogge, bis sie bei den den Bordwaffen anlangten.
„Spuck in den Wind, dreh dich dreimal und sich selbst, klopf auf Holz und ruf die Namen der Heiligen!“ forderte der Schwarzbärtige den Spielmann auf.
„Wie bitte?“
„Haha! Das kennst du nicht, was? Tja, wer dem Klabautermann nicht huldigt, dem hilft der alte Kobold natürlich auch nicht, wenn´s hart auf hart kommt. Pech für dich und die deinen. Aber ich will man gnädig sein und gaaaaaanz laaaaaangsam sprechen, damit du zumindest einen Teil verstehst. Den, auf den´s ankommt nämlich. Klopf auf Holz, Mann!“
Unsicher streckte Enki seine Hand nach der Reeling aus. Doch der Seeräuber packte sein Handgelenk und führte es stattdessen zu den Kanonen.
Tock, tock!
Das klang… irgendwie hölzern?!
„Na?“ höhnte der Pirat. „Geht dir nun ein Licht auf?“
„Ein ganzer verdammter Kerzenleuchter!“ zischte Enki. „Mein Rabenaas von Vater hat gespart, wo er konnte und hölzerne Attrappen anstatt gusseiserner Rohre angeschafft!“
Der Seeräuberkapitän nickte. „Doch das eine musst du deinem alten Herrn zugute halten: In den allermeisten Fällen fallen die Piratenkollegen auf diesen guten alten Schwindel herein. Nicht Kapitän darf sich eines Geschützmeisters mit den Augen eines Falken rühmen!“
Der Kapitän packte Enki nun bei der Schulter und drehte ihn so, dass der Spielmann das Deck des Piratenschiffes gut sehen konnte. Eine muskulöse Rothaarige gab dort der Geschützmannschaft, darunter einem halben Dutzend Pulverjungen, Anweisungen.
„Das ist sie!“ erklärte der Pirat stolz. „Mein Weib! Ich weiß, was du jetzt denkst: Ne Frau an Bord, bringt das nicht Unglück? Ha! Die ist kein Weib, die ist ne echte Hexe! Und du, mein neuer Freund, wirst bald in den Genuss ihrer Gastfreundschaft kommen, denn wer sich als Sohn des Reeders vorstellt, kann seinen Namen ebensogut als „Geisel“ schreiben.“
„Nein, danke, ich muss passen. Die ist nicht mein Typ“, entfuhr es Enki.
Ein kräftiger Schlag ins Gesicht war das Letzte, was er daraufhin spürte, bevor es schwarz um ihn wurde.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 14. Apr 2015, 13:10

Die Schwärze wich einem dumpfen Kopfschmerz und einer weniger dunklen Schwärze. Enki sah sich um, verfluchte sich dafür, seinen Kopf bewegt zu haben und fand, dass er sich im Unterdeck des Seeräuberschiffes befand.
„Schwarze Möwe… wie passend“, murmelte der Gefangene.
Hände und Füße des Mannes waren frei, was leider ebenso für seine Zehen galt. Anstatt ihn in Ketten zu legen, hatten die Piraten ihren Gefangenen einfach unter Deck liegen lassen, jedoch nicht, bevor sie ihn seiner Stiefel und teuren Gewänder entledigt hatten. Einmal mehr trug Enki nur Lumpen auf dem Leib, wie die meiste Zeit seines Lebens. Doch das wussten die Seeräuber natürlich nicht. In ihren Augen war der Gefangene ein Edelmann, der nichts von den Härten des Lebens wusste.

„In der Regel sind entführte Prinzen jünger als du, mein Hübscher“, bemerkte jemand. Enki blickte auf und erkannte die „Hexe“, das Weib des Seeräuberhauptmanns. Sie beugte sich zu dem Gefangenen herunter.
„Aber so im reifen Alter gefällt mir mein Edelknabe deutlich viel besser. Vermisst du dein Daunenkissen? Keine Angst, kannst dein Haupt woanders weich betten…“
Bei diesen Worten schwenkte die Geschützmeisterin ihre Hüfte unmissverständlich.
„Und dein Mann?“ hakte Enki nach. „Ich kann nicht fassen, dass ich das frage“, schoss es ihm dabei durch den Kopf. „Wann hat mich denn das jemals gestört?“
„Mein Mann? Soll der etwa auch mitmachen? Oh, du Schlawiner! Aber bitte nur drum, und ich kann ihn rufen! Na, was sagst du?“
„Ich sage…“ Enki holte tief Luft. „Ich sage, dass du nur sehen willst, wie ich reagiere.“
Ein Stiefeltritt in den Magen war der Lohn für diese Antwort.

„Du bist dann wohl gewiss einer von den ganz Edlen“, höhnte die Piratin. „Die sich für Wohltäter halten, und glauben, alles besser zu verstehen als das dummer Bauernvolk. Warum stellst du das nicht unter Beweis?“
Nach einem kurzem Kampf gegen die Heringe, die er zum Frühstück gegessen hatte und die nach dem Tritt den Drang verspürten, Enki auf dem selben Weg wieder zu verlassen, brachte der Spielmann etwas hervor, das die "Hexe" als Zustimmung deutete.
„Fein, fein!" meinte sie grinsend. "Auf hoher See fehlt es oft an Zerstreuung. Komm mit an Deck und amüsiere uns, Gräflein! Vielleicht kommt etwas Gutes für dich dabei heraus.“
„Im Moment kommen nur die Heringe wieder raus…“ ächzte Enki.
Die Piratin nickte sachkundig. „Das erledigst du aber besser oben“, erklärte sie und dann stieß sie den Gefangenen auch schon unsanft die Leiter herauf.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 19. Apr 2015, 14:19

Nachdem Enki über der Reling würgend die Fische wieder ins Meer zurück entlassen hatte, schubbsten ihn die Piraten auf die Stiege zu, die zum Achterdeck führte. Dieses durfte nur von ihrem Kapitän, dem Steuermann, dem Segelmeister und dem Quartiermeister betreten werden. Selbst der Bootsmann musste sich damit begnügen, auf den untersten Stufen zu hocken – doch dieses Privileg erhob ihn bereits über das gemeine Volk.
Kapitän Fettbart, wie ihn Enki insgeheim nannte, blickte auf seine Untertanenschar herab.
„Willkommen auf der „Schwarzen Möwe“, Graf Hauerkind! Oder sollen wir euch Herr von der Suhle nennen?“
Hohnlachen quittierte diesen in den Augen der Seeräuber gelungenen Scherz über Enkis Wildschweinwappen.
„Bachental… Es heißt Bachental.“
„Ach, ein kleines Bächlein fließt bei euch? Nun, unsere See ist ein wenig tiefer. Und wilder.“
Wiederum brandete Lachen auf. Enki kniff die Augen zusammen. Gegen die Sonne blinzelnd versuchte er, in Fettbarts Miene zu lessen. Der erste Eindruck vom Überfall auf die „Blauschwinge“ bestätigte sich: Dieser Mann war in Wahrheit hochintelligent, vermochte jedoch, sich auf das Niveau seiner Gefolgsleute herab zu begeben. Er bot ihn genau die simplen, kindischen Scherze, die sie verstanden. Enki fürchtete, dass der Kapitän auch bereit war, den Piraten die grausamen Spiele zu bieten, die sie liebten… Seine nächsten Worte schienen das zu bestätigen:
„Wir veranstalten ein Spiel, Graf vom Bache!“ donnerte Fettbart vom Achterdeck herunter. „Drei Runden. Gewinnt ihr alle drei, seid ihr frei, und dürfte die „Möwe“ in einem Hafen eurer Wahl verlassen. Doch mit jeder Runde, die ihr verliert, steigt das Lösegeld, das wir für euch verlangen. Ihr seht, euer Schicksal liegt allein in eurer Hand!“
„Großartig!“ erwiderte Enki. „Ich wollte schon immer mal nach London!“
Und während die versammelte Piratenmannschaft noch versuchte, die Pointe zu entschlüsseln, lachte Kapitän Fettbart dröhnend.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Sa 25. Jul 2015, 03:15

4 neue Kapitel

Was bisher geschehen ist:
Der Spielmann Enno-Kilian von Bachental, genannt Enki, wurde im Erwachsenenalter von seinem adligen Vater anerkannt und mit der Ortschaft Mühlingen betraut. Da der Herr von Bachental fürchtet, gegenüber den aufstrebenden Kaufleuten an Boden zu verlieren, sendet er den reiseerfahrenen Enki auf eine Seefahrt, auf dass er sich mit Handelsrouten und –gebräuchen vertraut mache. Doch das Schiff wird von Piraten überfallen und der Edelmann als Geisel genommen.
Um seine Mannschaft zu unterhalten, zwingt der Seeräuberkapitän den Gefangenen zu einem Spiel…


Enki befürchtete das Schlimmste. Nicht, sein Leben zu verlieren, diese Gefahr schien vorerst gebannt zu sein, sondern eine Demütigung durch die Piraten, die sich gewaschen hatte.
Einige der Männer würden wie er selbst das Feudalsystem hassen, das der Gefangene in ihren Augen repräsentierte. Einen einzelnen Edelmann zu foltern änderte nichts an den Umständen, mochte aber für den Moment Genugtuung verschaffen. Doch die Mehrheit der Bande hatte einfach nur Spaß am Leiden anderer, war es doch genau jene Art von Unterhaltung, die ihnen von Kindesbeinen an vorgesetzt wurde.

„Wie jeder Mensch essen auch wir Seeleute gern mal Fleisch“, dröhnte „Kapitän Fettbart“ über das Deck. „Aber unter unseren beengten Verhältnissen hier können wir natürlich keine ganze Kuh mitnehmen. Daher sind die Happen bei uns kleiner.“ Der Seeräuber grinste bösartig. „Dafür gibt es aber auch mehr Bissen.“
Im Anschluss an diese ominösen Worte wurde der Gefangene zu einer mit einem Tuch bedeckten Schüssel geführt. Das Tuch bewegte sich ganz leicht… nicht vom Wind oder durch die Schritte der Seeleute, sondern als rapple darunter etwas. Als einer der Piraten das Tuch fortzog, klebten zwei fette Nacktschnecken daran. Zwei von mehreren Dutzend, die sich noch in der Schüssel befanden.
„Guten Appetit, Graf von der Suhle!“
„Oh, wie schön!“ presste Enki hervor. „So viele nackte Damen ganz allein für mich… das wäre aber nicht nötig gewesen.“
Schallendes Gelächter ertönte, doch die wilde Meute lachte nicht mit dem Gefangenen, sondern über dessen käseweises Gesicht.
Das Vernünftigste wäre nun gewesen, das Spiel einfach abzulehnen. Ob er nun mitspielte und verlor, oder gleich aufgab, das Hohnlachen der Piraten würde in beiden Fällen gleich schmerzhaft ausfallen. Doch seine Vernunft in Gestalt von Ottmar und Roswita hatte Enki ja in Mühlingen zurückgelassen.

Zuerst mit zitternden Fingern, dann immer entschlossener, griff der Spielmann in die Schüssel. Wie er die erste Schnecke herausfischte und sich diese um seinen Finger wand, fiel ein Sonnenstrahl auf die schleimige Haut des Tieres.
„Oh mein Gott!“ entfuhr es Enki, doch nicht vor Ekel, jedenfalls nicht ausschließlich. Kannte er diese spezielle Schneckenart denn nicht aus seiner Kindheit? Hatten die Dorfknaben in Moorungen nicht eben jene Mutprobe bis zum Erbrechen gespielt? Wortwörtlich in manchem Fall, zumindest, bis man begriffen hatte, worauf es dabei ankam.
Im Ganzen ging so eine Schnecke nicht hinunter, man musste den fleischigen Segen schon zerkauen. Wer es ungeschickt anstellte, zerbiss dabei eine Blase im Inneren des Tieres und beschleunigte damit nur die Übelkeit. Doch wenn man wusste, wie man es anstellen musste, lies sich das winzige Organ mit den Zähnen entfernen und im Ganzen ausspucken.
Genau das tat der Gefangene, während er widerwillig die Schüssel leerte. Angenehm wurde die Aufgabe dadurch nicht, aber das Niveau des Grauens war von höllisch auf fegefeurisch gesunken.

Landauf, landab galt der Ausspucken-Trick als in diesem Spiel erlaubt. Daher besaßen auch die Piraten keine Handhabe gegen Enkis Vorgehensweise. Nur hier und da hörte der Spielmann jemand flüstern: „Das hat ihm doch der Teufel eingegeben!“

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Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Sa 25. Jul 2015, 20:46

Das nächste Spiel war noch leichter als das erste.
Vom Mast des Piratenschiffes baumelte eine Puppe, die Enki als „Garland der Gehängte“ vorgestellt wurde.
„Garland hat allerlei Schätze in seinen Taschen“, erklärte der Kapitän Enki. „Hol sie doch bitte für uns heraus! Aber Vorsicht, denn Diebstahl, noch dazu an Toten, ist eine schwere Sünde. Wenn der Herrgott dich dabei ertappt, klingelt im Himmel ein Glöckchen!“
Für jedes Klingeln wurde dem Gefangenen ein Peitschenhieb angedroht.
Nun hatte der Spielmann als kleiner Junge des öfteren den Riemen zu spüren bekommen, doch während seiner Zeit auf dem Handelsschiff war er Zeuge mehrere Auspeitschungen aufsässiger Matrosen geworden. Was auf diesen Schiffen benutzt wurde, waren keine harmlosen Reitgerten, sondern veritable Hinrichtungsinstrumente.

Erneut kam seine Herkunft Enki zu Hilfe, diesmal nicht die im Gesindehaus verlebte Kindheit, sondern seine Wanderjahre, angefüllt mit Liedern und Geschichten, die er zum Besten gegeben hatte. Darunter befand sich auch so manches Bubenstück.
Enki kannte Puppen vom Schlage Garlands des Gehängten. Zwar hatte er sich noch nie selbst an einer versucht, doch er wusste, wie sie funktionierten: Jeder zu entwendende Geldbeutel oder andere Wertgegenstand war über feinste Schnüre mit einem Glöckchen verbunden. Dieses würde anschlagen, sobald sich der Taschendieb zu ungeschickt anstellte.
Finger, die jahrelang die Laute geschlagen hatten, arbeiteten sich gekonnt in Garlands Taschen vor. Enki entfernte Münzen, Taschentücher und Glücksbringer von der Übungspuppe. Schließlich öffnete er, einer Eingebung folgend, auch noch Garlands Mund und zupfte einen Goldzahn aus dem bereits heftig hin und her pendelnden „Gehängten“.

Die Piraten wussten nicht, ob sie nun die Geschicklichkeit ihres Gefangenen bejubeln oder dessen Sieg ausbuhen sollten. Für keinen von ihnen hätte der Gehängte eine besondere Herausforderung dargestellt. Jeder Beutelschneider mit einiger Erfahrung, ja, jeder dahergelaufene Spielmann hätte die Aufgabe lösen können, ohne einen einzigen Peitschenhieb einstecken zu müssen. Aber doch kein Adliger und Handelsherr! Noch nie war einem Gefangenen der Piratenmeute dieses Kunststück gelungen.
Stumm knüpften die Seeräuber Garland ab und betteten ihn zur Ruhe im Lagerraum.
Enki aber blickte verstohlen zum Himmel.
„Ich habe das Gefühl, du willst mir etwas mitteilen, lieber Gott“, flüsterte er.

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