(Story) Die 5 Aufgaben

Gast

(Story) Die 5 Aufgaben

Beitrag von Gast » Sa 31. Okt 2015, 21:52

Dies ist die Geschichte eines etwas unverträglichen Herrn, der in eine magische Welt gerät und (hoffentlich) daran wächst.
Der Name dieser Welt: Uptasia
Ein Kapitel gibt es heute, das zweite Morgen und wenn ihr Gefallen daran findet, sicher auch noch mehr.


Es ist war mal wieder soweit. Schwiegermutter hatte ein Anliegen, eine eigentlich ganz einfache Arbeit, aber sie musste exakt und 100%tig so ausgeführt werden, wie Mama das aus ihrer Kindheit kannte. Wer davon abwich, der hatte von nichts eine Ahnung und hätte nie die Hand ihrer Tochter erringen dürfen.
Herrje, dabei glaube ich gar nicht an Hexen, aber diese Frau…
Nee, im Ernst mal! Na klar hat ein durchschnittlicher Vierzigjähriger weniger vom Leben gesehen als eine durchschnittlicher Fünfundsechzigjährige, aber das macht uns doch nicht zu Kindergartenkindern!

Naja, jedenfalls fühlte ich mich an diesem Abend so rebellisch wie ein zu Recht gemaßregelter Teenager und so tieftraurig wie ein zu Unrecht gemaßregelter. Irgendwie kam dann ein verrückter Gedanke in mir auf: Irgend so ein buntes Spiel im Internet würde es mir ermöglichen, mich unter die Kids zu mischen und meinen Frust über die Alten unter Gleichgesinnten abzulassen. Ich fand „Uptasia“ und ehe ich es mich versah, besaß ich ein kleines Städtchen komplett mit Bäckerei, Blumenlädchen und Restaurant. Der Frust war verflogen, ganz ohne Gezeter.
Aus diesem Grund kehrte ich zu dem Spiel zurück, als ich eine Woche später ein wenig Zeit hatte, obwohl es diesmal gar keinen Ärger loswerden musste. Das Spiel hatte mich einfach in seinen Bann gezogen. Hätte ich damals schon gewusst, wie alles enden würde, oh, um wie viel vorsichtiger hätte ich meine, wenn auch nur gedachten, Worte gewählt!
„In den Bann gezogen“, Mann, oh, Mann… Nein, damit waren nicht etwa Suchtsymptome gemeint, sondern… Nun, das werden Sie schon mitbekommen, wenn Sie weiterlesen.

Also gut.
Ich merkte rasch, wie ernst die Kids ihr Spiel nahmen. Wer nicht mindestens täglich aktiv war, hatte kaum Chancen, in ihre Freundeslisten aufgenommen zu werden. Freunde aber brauchte man, um an Waren zu gelangen, die wiederum bestimmte Kunden zufrieden stellen sollten.
Nach einigem Herumgefrage geriet ich schließlich an ein Mädel namens Enki. Nicht Enki005 oder En_Ki oder sonstein neumodisches Konstrukt, sondern ein ganz normaler Mädchenname, französisch oder so.
Diese Enki schien bereit zu sein, mich in ihren virtuellen Freundeskreis aufzunehmen.
„Was verlangst du?“ tippselte ich in ihren innserspielweltlichen Briefkasten.
„Nur Treue.“
Ja, phantastisch. Ausdrücken konnte die sich wie ihre gesamte Altersklasse, nämlich gar nicht. Was sie damit meine, fragte ich zurück. Tägliche Besuche in ihrem Städtchen?
Die Antwort kam rasch: „Nein. Du darfst bloß nicht gehen.“
Fein, fein, die Nebel begannen sich zu lichten und ein zartes Seil spannte sich über die Generationenkluft. Jetzt bloß nicht runterfallen beim Balanceakt…
„Okay, ich „kicke“ dich nicht und werde mich auch nicht löschen, aber mehr kann ich nicht versprechen“, schrieb ich zurück. Als heitere Note am Ende ergänzte ich: „Ich schwöre dir hiermit Treue!“

Minuten später lud mein Rechner Enkis Stadt, damit ich dort die vom Spiel vorgesehenen fünf Aufgaben erledigen konnte. Ich sah mich ein wenig um und genoss den Anblick eines zwar noch immer niedrigstufigen, aber deutlich weiter entwickelten Accounts als mein eigener es war. Die ganze Zeit über grinste mich dabei Enkis Vampirkatze an. Irgendwann lege ich mir auch ein ein Kätzchen zu, denn ob nun in echt oder gemalt, die Tierchen beruhigen das aufgebrachte Gemüt, wenn Schwiegermutter wieder mal ihren Rappel bekommt.
Wie dem auch sei, mein Mauscursor schwebte über dem ersten abzuarbeitenden Gebäude und ich drückte die linke Maustaste herunter, als plötzlich ein greller Lichtblitz vom Monitor ausging. Um mich herum wurde alles weiß. Dann, nach und nach, erschienen kleinere Lichtpunkte in dem strukturlosen grellen weiß. Sie wirkten warm, wie von einer Kerze ausgehend. Einer, zwei, drei, vier… fünf und sechs.
Meine Wahrnehmung kehrte zurück. Ich sah… nein, das konnte nicht sein!
Rasch kniff ich die Augen zu, in der Hoffnung, alles sei nur ein Trugbild und ich müsse nur blinzeln, damit sich meine Welt normalisierte.
Doch die restlichen vier Sinne kannten keine Gnade. Sie übermittelten mir unbarmherzig weitere Eindrücke meiner Umgebung: Das Klappern von Tellern, den Geruch frisch gebrühter Gemüsesuppe, den weichen Teppichboden unter meinen Hausschlappen sowie Zigarrenqualm aus nächster Nähe, der sich auf meine Zunge und den Gaumen legte. Igitt!
Ich hustete, wobei sich meine Augen ungewollt wieder öffneten. Nun gab es kein Ausweichen vor der Wahrheit mehr, kein Verdrängen: Ich stand im Restaurant aus dem Wimmelbildspiel!
Der Himmel mochte wissen, wie das zustande gekommen war. Oder viel eher die Hölle.
Leute, ich mag das Spiel doch! Sehr sogar! Aber meine Familie, die mag ich noch viel mehr. Ja, auch Schwiegermama mit ihren Schrullen! Doch für diese Einsicht war es nun zu spät.

Ich will wieder nach Hause!

Dafür bezahlst du mir, Enki, oder wer immer du auch bist!

Dabei glaube ich doch gar nicht an Hexen!!!

Gast

Re: (Story) Die 5 Aufgaben

Beitrag von Gast » So 1. Nov 2015, 13:53

„Bist du der neue Lehrling?“ sprach mich jemand an. „Ach, nein, Unsinn, bist ja zu alt dafür. Du musst die Aushilfe sein, die uns der Stadtrat versprochen hat.“
Ein feister Mann mit einer Kochmütze auf dem Kopf packte meine Hand mit seiner Pranke.
„Wir freuen uns sehr, dich hierzuhaben! Ich darf doch Du sagen, oder? Mein Name ist übrigens Köchlein. Naja, jedenfalls nennen mich die Leute alle so. Eberhardt Koch, um es genau zu nehmen.“
„Sehr angenehm, Herr Koch, öhm, Köchlein, meine ich.“
Das „Köchlein“ nickte wohlwollend. Anschließend bat es mich, die Leuchter zu löschen und auf eventuelle bereits zu weit heruntergebrannte Stummel neue Kerzen zu setzen. Wo genau im Restaurant Leuchter verteilt stünden, wisse er gar nicht mehr so richtig, gab der Mann Auskunft, doch es handle sich wohl um nicht mehr als ein halbes Dutzend.

Ich erkannte „Restaurant, Modus Suche, Stufe 1“.

Nun, das sollte leicht zu erledigen sein. Immerhin hatte ich erst vor ein paar Minuten Restaurantwimmelbilder gespielt und wusste noch so ungefähr, wo sich die tragbaren Kerzenleuchter versteckten. Diese Bilder waren allesamt sehr liebevoll gestaltet und in der Regel fand man Gegenstände auch dort, wo sie dem gesunden Menschenverstand nach liegen sollten. Enki hatte mir während unseres kurzen „Beschnupperns“ erzählt, dass in späteren Bildern auch schon mal ein Marmorblock in einer Baumkrone hängen sollte, aber im Großen und Ganzen nichts Unerwartetes vor dem Spieler lag.

Im…
Großen…
Und…
Ganzen…
Verdammnis.

Wie in Zeitlupe wanderte mein Blick nach oben. Und in der Tat, ich hatte richtig geraten. Dort, direkt über meinem Kopf, steckte eine Kerze zuviel im Kronleuchter.
Natürlich, das war ein geniales Versteck und völlig glaubhaft, aber wissen Sie, in einem Spiel, wo man das Gesuchte lediglich anzuklicken braucht, ist es bei weitem einfacher, sechs tragbare Kerzenleuchter einzusammeln als in der Realität.
Meine Realität aber war fürs erste dieses Wimmelbild. Möglicherweise würde sich ja alles zum Guten wenden, sobald ich meine Aufgabe gelöst hätte? An diese neue Hoffnung klammerte ich mich.
Also den Ärmel hochgekrempelt und eine Leiter angelegt!
„Wir holen eine Leiter“, pfiff ich vor mich hin. „Und dann geht es weiter…“
Leiter…
Leiter, Leiter, Leiter…
Nein, Fehlanzeige. Leiter? Nö. Nicht in diesem Bild.

Auf meine Frage, ob es eine Leiter im Haus gebe, schüttelte Köchlein den Kopf. Nein, gab es nicht, doch ich solle ruhig mal in den umliegenden Gebäuden herumfragen. Mir säße ja keine Stechuhr im Nacken und irgendwer würde mir schon das passende Gerät ausleihen.
Da stand ich nun ziemlich doof da. Zwar glaubte ich mich zu erinnern, dass der kürzlich von mir freigeschaltete Zimmermann eine Leiter besaß, doch zum einen war ich mir nicht vollständig sicher, zum anderen hatte ich mir nicht gemerkt, wo Enki ihren Zimmermann platziert hatte und zum nochmals anderen… nun ja. Öhm…

Ganz ehrlich?

Ich hatte Schiss, aus dem Wimmelbild heraus in die Stadt zu treten. Denn wäre ich ersteinmal dort, dann wäre endgültig alles real, was mir widerfahren war. Keine Einbildung mehr, sondern echt. Und das wollte ich einfach nicht.
Daher hockte ich mich mit dem dem Rücken gegen die Wand gelehnt hinter das Klavier und starrte ins Leere.
Nach einer Weile bewegte ich meinen Körper vor und zurück. Ganz langsam, ohne bewusste Kontrolle. Auch das wollte ich nicht, doch ich konnte es nicht verhindern. Ich fühlte mich hilflos, verraten und alleingelassen.

Gast

Re: (Story) Die 5 Aufgaben

Beitrag von Gast » Di 3. Nov 2015, 22:08

Ich hätte ewig so in meiner Ecke gesessen, hätte mich nicht ein natürlicher Trieb herausge… nun ja, trieben. Panisch sah ich mich um, fand die gesuchte Örtlichkeit schließlich im Hof, schwang den Deckel hoch und verschaffte meiner Blase die notwendige Erleichterung.
Ah!
Von einem Schwarm Fliegen zurück in den Hof getrieben, verließ ich dass Herzhäuschen rasch wieder und da stand ich armer Tropf nun im Freien.

Unter tiefen Seufzern setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis ich auf der Straße stand. Ich holte gerade Luft für einen erneuten Seufzer, doch was diesmal herauskam, war ein langgezogenes „Wooooooooow!“
Die Stadt, in die es mich verschlagen hatte, war nämlich riesig!
Das Restaurant öffnete sich direkt auf den Markt, doch wo im Spiel ein einsames Pferd am Brunnen angepflockt war, drängten sich nun Massen von Menschen durch ein verwirrendes Labyrinth aus überdachten Buden, improvisierten Ständen aus Kisten und natürlich der Kutschenstation. Der Brunnen, im Spiel DER große Blickfang, ging in dem ganzen Wirrwarr beinahe unter.
Alles in Enkis Account nur angedeutete hatte Gestalt angenommen und alles nur angedachte war real geworden. So war beispielsweise aus einem Arrangement aus Teich, Statue und zwei Bänken ein kompletter Stadtpark geworden. An diesen schlossen sich Reste einer alten Stadtmauer an, deren Wachtum sogar noch vollständig vorhanden war. Dahinter wand sich der Fluss durch die Ebene, doch handelte es sich nicht mehr um ein schmales Gewässer, das mit vier, fünf Schritten überquert war, sondern um einen veritablen Strom. Flusschiffer und Flößer waren am Ufer zugange. Ich hörte, wie sie sich Kommandos zuriefen oder auch schon einmal kräftig fluchten. Aus Richtung des Gebirgswaldes trieben grob von ihren Ästen befreite Stämme herab, die im Holzarbeiterviertel verarbeitet und in Form von Fertigwaren wiederum dem Strom anvertraut wurden.

Köchleins Stimme riss mich aus meinem Staunen: „Noch da? Wolltest du dir nicht in der Nudelfabrik eine Leiter ausborgen? Wenn du schon mal dort bist, bring doch bitte ein Paket Spaghetti mit. Aber wirklich nur eins! Ach, und meinen Regenschirm. Den habe ich neulich dort vergessen.“
Ich nickte stumm.
Leiter, Nudeln, Schirm, gebongt.

Vergleichsweise guten Mutes begab ich mich auf den Weg zur Fabrik, wobei ich mich stets am Rand des Marktes hielt.
Ich hatte noch keine zehn Meter hinter mich gebracht, als mich ein kleiner Junge ansprach. Ob ich nicht etwa zur Nudelfabrik ginge, wollte der Bengel wissen. Doch, das ginge ich wohl, erwiderte ich.
„Fein! Können Sie da mal nachschauen, welches Instrument die Zunft spielt? Ich möchte nämlich Lehrling dort werden, da muss ich alles über die Zunft wissen. Aber die Großen wollen es mir nicht verraten!“
„Welches Instrument…“ Ich stockte. Wieso das Kind die Antwort nicht google, lag mir auf der Zunge, bevor mir wieder einfiel war, dass ich im neunzehnten Jahrhundert steckte. Wie eine kalte Dusche überkam mich diese Erkenntnis: Ich befand mich nicht nur in einem Computerspiel, sondern zudem in einer völlig fremden Kultur.
Unfähig zu sprechen nickte ich einfach nur.
Ich nickte gleich nocheinmal, als ein Bäckergeselle mich bat, die Leuten in der Nudelfabrik daran zu erinnern, dass sie doch bitte endlich das geborgte Sieb zurückbringen möchten. Sein Meister benötige es in der Backstube.
Schließlich sprach mich noch eine Arbeiterin aus der Fabrik an, ob ich ihr wohl ihren verlegten Angelköder zurückbringen könne. Den habe sie in der Pause ihren Kollegen gezeigt, dann aber liegen lassen. Selbst traue sie sich nicht nach Arbeitsschluss in die Fabrik, da ihr der Ruf anhaftete, etwas schusslig zu sein und sie nicht noch bei einer dummen Vergesslichkeit ertappt werden wollte.

Und so setzte sich der Reigen fort.
Jemine, worauf hatte ich mich da eingelassen?!
Immer länger wurde die Liste mit aus der Fabrik zu besorgenden Gegenständen, bis ich ihr einen weiteren Posten hinzufügte: einen Handkarren, um den ganzen Segen auch transportieren zu können!
Als ich die Nudelfabrik erreichte, konnte ich mich schon beinahe nicht mehr erinnern, weshalb ich eigentlich hergekommen war. Ach ja, wegen der Leiter, mit der ich schlussendlich diesen dämlichen Kerzenhalter von der Decke holen wollte.

Gast

Re: (Story) Die 5 Aufgaben

Beitrag von Gast » Mi 4. Nov 2015, 22:01

Ich betrat also Enkis Nudelfabrik, eines jener Produktionsgebäude, das ich selbst in meinem niedrigstufigen Uptasia Account noch nicht besaß.
Mit Frau und Kindern hatte allerdings ich einmal eine Nudelmanufaktur in der echten Welt besucht. Dort hatten wir gesehen, wie die Spaghetti aus einer Art Trichter kamen und mit Haumessern abgesäbelt wurden. Doch was sich im 21. Jahrundert Manufaktur schimpfte, war noch immer höher technisiert als die uptasische Nudelfabrik.
Tisch an Tisch reihte sich in einem hellen Saal, der zwar sauber, aber bei weitem nicht klinisch rein zu nennen war. An jedem dieser Tische häuften die Arbeiter der Spätschicht Mehl auf, schlugen Eier hinein und vermengten beides sorgfältig. Der fertig geknetete Teig wurde für die nächste Stunde beiseite gelegt und dann sofort der nächste begonnen.
Obwohl die Arbeit zügig voran schritt und niemand trödelte, ging von dem ganzen Prozess eine Ruhe aus, die ich aus meinem Büro nicht einmal dann kannte, wenn wir alle über unsere Kaffeetassen gebeugt saßen und nichts taten – oder uns einbildetenn, nichts zu tun, während wir mit einer Hand die Zeitung umblätterten und mit der anderen per Smartphone die neusten Tweets der Kids aus dem Schulhof entgegennahmen während der Fernsehschirm im Pausenraum uns hibbelig auf die aktuellen Ergebnisse der Formel 1 warten ließ.

In dem ganzen Durcheinander arbeitete ich meine Liste ab: Leiter, Regenschirm, Oboe, Sieb, Angelköder und dergleichen mehr bis hin zum Sackkarren. Endlich war alles aufgeladen, einschließlich der Oboe, die der angehende kleine Lehrling hatte sehen wollen. Doch der rümpfte die Nase.
„Na, ich hätte Ihnen das auch ohne Beweis geglaubt“, erklärte er. „Bringen Sie das Instrument nur rasch wieder zurück, sonst denken die Leute noch, Sie hätten es gestohlen!“
Wo das Kind Recht hatte, hatte es Recht, das musste ich zugeben. Also kehrte ich wieder um. Ich stellte die Oboe gleich im ersten Raum ab, ohne darauf zu achten, ob es sich auch exakt denselben Platz handelte, von dem ich sie mitgenommen hatte. Für den Spieler nach mir war das halt Pech, aber der saß ja auch an seinem heimischen Rechner, während ich hier mit einer Ausnahmesituation zu kämpfen hatte.
Nachdem das erledigt war, ertönte ein vernehmliches „Kling!“ wie nach einem erfolgreichen Klick beim Freundebesuch in der Gaststube.
Natürlich!
Mein Herumgesuche in der Fabrik musste die erste der fünf Aufgaben gewesen sein! Was sonst auf dem Bildschirm nur eine einzige Sekunde in Anspruch nahm, erforderte hier, im Inneren des Spiels, echte Arbeit.

Nun aber schnell zurück ins Restaurant, die Leiter angelegt und den letzten Kerzenhalter für Köchlein beschafft!
Tänzelnd begab ich mich ins Restaurant, um mein zweites „Kling“ abzuholen.
„Was hat denn der Onkel?“ fragte ein Kind.
Seine Mutter antwortete lächelnd: „Na, der freut sich sicher auf seinen Feierabend.“

Die Ärmste meinte es gut. Sie ahnte ja nicht, dass sie nur eine Figur in einem Compuerspiel war, einem Game, in das es mich verschlagen hatte, nachdem ich unschuldigerweise und nichtsahnend einer Mitspielerin „Treue“ geschworen hatte. Und mir blieb nichts weiter übrig, als mich Stück für Stück durch die Questen zu wurschteln, die sonst mit wenigen Mausklicks erledigt waren, in der vagen Hoffnung, danach freigelassen zu werden. Dummerweise hatte ich mir dieses glückliche Ende selbst zusammengereimt. Über einen Beweis dafür verfügte ich nicht.

Gast

Re: (Story) Die 5 Aufgaben

Beitrag von Gast » Fr 6. Nov 2015, 02:27

Mangels eigener Bleibe durfte ich im Restaurant übernachten, wo ich auch gut versorgt wurde. Am nächsten Morgen wurde von mir erwartet, erneut als Aushilfe zu arbeiten.
Der Besitzer, genannt das Köchlein, war ein lustiger Gesell, der mir wohlgesonnen war. Doch wenn man neu in einem Job ist, stören Geselligkeit und Witzeleien nur, da möchte man ersteinmal alles lernen anstatt sich Anekdoten aus dem Privatleben des Chefs anzuhören.
Wie durch ein Wunder schaffte ich den Spagat, meine Arbeit zu verrichten, ohne dabei Köchlein vor den Kopf zu stoßen. Die Hoffnung auf ein drittes „Kling“, das mich der Erlösung näher brächte, hielt mich auf den Beinen und beflügelte mich zu Höchstleistungen. Jedoch, dieses erhoffte Klingeln stellte sich nicht ein. Ganz offenbar wurde jede Fabrik nur einmal angerechnet.

So kam es, dass ich, während alle anderen ihren wohlverdienten freien Nachmittag genossen, mich in der Stadt nach weiteren Arbeitsmöglichkeiten umsehen musste.
Wobei… vielleicht wäre es ja klüger, die Zeit dazu zu nutzen, in Erfahrung zu bringen, was hier hinter den Kulissen ablief? Möglicherweise war ich ja nicht der einzige, der an Halloween in Enkis Falle getappt war.
Daher nahm ich Köchleins Angebot, mit ihm eine Zigarre zu rauchen, dankend an und erkundigte mich beiläufig, ob er wohl ein kleines Mädchen mit Namen Enki kenne. So sechs bis allerhöchstens zehn Jahre alt.
Die Antwort fiel negativ aus.
„Wir haben hier nur die Lady“, erklärte der Restaurantbesitzer. „Na und so einen Kerl mit einer rotgetigerten Katze und einer Eule, der im alten Wachturm haust. Ich glaube, er ist der Diener der Lady. Aber die stehen beide in deinem Alter.“

Eine Edelfrau und ein merkwürdiger Kauz? Nein, keiner von diesen konnte Gesuchte sein, dessen war ich mir vollkommen sicher. Bei Enki musste es sich um ein Kind halten. Nur Kinder spielten solche bunten Spiele im Internet. Naja, und ich mit meinen fast vierzig Lenzen. Nur zugegeben hätte ich das natürlich nie. Ob es dieser Enki am Ende ebenso erging? War sie vielleicht doch die Lady? Sollte ich mit ihr reden?
Doch, nein! Ob nun Kind, Altersgenosse, alte Frau oder Typ mit einer Menagierie im Schlepp, der/die/das Enki war mein Feind. Sie hatte mich heimtückisch in eine Falle gelockt und sollte nicht die Genugtuung erfahren, mich um meine Freiheit betteln zu hören!

„…Familie?“
„Wie, wo, was? Öhm, ich meine, wie bitte?“
Verflixt nochmal! Da hatte mir doch Köchlein eine Frage gestellt, während ich diese Enki in Gedanken verflucht hatte. Der Mann wiederholte seine Frage geduldig: Ob ich wohl eine Familie hätte.
Ich senkte den Kopf. Mit einem Mal wollte mir die geschenkte Zigarre nicht mehr schmecken. Ich fühlte mich wie ein Schuft, dafür, dass ich hier saß und in meinem Stolz badete, während meine Liebsten daheim zu dieser Stunde in Angst um mich vergehen mochten. Ich war ja schon einen ganzen Tag lang fort!
Ich druckste ein wenig herum, bevor ich antwortete, dass ich eine wundervolle Frau, drei Kinder und nicht zu vergessen die Schwiegermami hatte. Ihre Gesichter standen mir überdeutlich vor Augen. Um nichts in der Welt wollte ich diese fünf Menschen betrübt sehen. Ich würde also wohl oder übel doch mit der Lady sprechen müssen.

Köchlein missverstand meine Betretenheit. Er glaubte, ich sorge mich um meinen zu geringen Verdienst als sein Gehilfe.
„Ich werde mich mal umhören“, versprach mein Arbeitgeber. „Wenn es irgendwo in der Stadt einen richtigen Arbeitsplatz für dich gibt, stelle ich dich dort vor. Hast du denn etwas gelernt?“
„Ich bin Buchhalter“, gab ich Auskunft, wobei mich allerdings allein der Gedanke, ein Schreibgerät zwischen die Finger nehmen zu müssen, schaudern ließ. Beherrschte ich die Schreibschrift überhaupt noch?
„Buchhalter“ wiederholte Köchlein. „Hm, ja, die braucht eigentlich jeder Unternehmer, doch will ich meinen, die unseren haben ihren Bedarf bereits gedeckt. Naja, Fragen kostet ja nichts.“
„Ich möchte nicht undankbar erscheinen, Köchlein“, sagte ich. „Immerhin hast du mich aufgenommen und bist mir schon nach so kurzer Zeit ein guter Freund geworden. Aber ein Nebenjob am Nachmittag käme mir wahrhaftig gelegen! Egal, wo, ich mache jede Arbeit!“

Das stimmte sogar. Worauf es mir ankam, war ja nicht der Arbeitslohn, sondern das dritte „Kling“ von fünfen…

Gast

Re: (Story) Die 5 Aufgaben

Beitrag von Gast » Sa 7. Nov 2015, 12:40

Das neunzehnte Jahrhundert – Epoche der Vernunft, der Moral, der hohen Ansprüche und der Kultur. Ja, ich gebe zu, dieses meiner Generation so völlig fremde Lebensgefühl hatte es geschafft, mich bereits nach kurzer Zeit in seinen Bann zu ziehen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Uptasia ein idealisiertes ausgehendes neunzehntes Jahrhundert abbildete, in dem nicht nur die Arbeit, sondern auch der Arbeiter als Person geschätzt wurde. In Wirklichkeit hätte ein Restaurantbesitzer sich sicherlich ebensowenig mit seinem Mädchen für alles auf eine Zigarre in den Garten gesetzt wie mein Chef heutzutage. In Uptasia aber war eine Freundschaft wie die unsere nichts Außergewöhnliches. Kurz gesagt schauten die Menschen zur Lady auf, aber diese nicht auf sie herab.
Und nun hatte ich auch noch eine Aushilfsstelle in der Bibliothek angeboten bekommen, dem Hort der Bildung, der in Enkis Account, öhm, in ihrer Stadt, nebenbei auch als Museum und Schule fungierte.

Ich betrat also diese ehrwürdigen Hallen mit ausschließlich den besten Absichten und positivsten Eindrücken von dieser Welt, nur, um lernen zu müssen, dass auch hier Bürokratie, Borniertheit und möglicherweise sogar der Wahnsinn regierten.
Die Schulkinder hatten ein fürchterliches Chaos aus gefalteten Papierschiffchen, Bananenschalen, verstreuten Schachfiguren und unachtsam einsortierten Ausstellungsobjekten hinterlassen. Von mir wurde erwartet, Ordnung zu schaffen.
Soweit, sogut.
Allerdings verlangte es den Bibliothekar nach einer ganz besonderen Art von Ordnung: Der Mann legte mir eine Zeichnung vor, auf der ein ganz ähnlicher Bibliotheksraum abgebildet war. In Paris befände sich dieser Ort, erklärte er mir, und die hiesige Bibliothek solle diesem Vorbild exakt angeglichen werden.
Ich nickte. „Also alles am selben Platz, aber ohne den Safarihelm und die aus dem Album herausfliegenden Briefmarken, nicht wahr?“ vergewisserte ich mich. Doch, widersprach der Gelehrte. Er drücke sich stets korrekt aus und wenn er sage „exakt“, dann meine er das auch so! Gerade auf diesen Safarihelm könne er in dem Arrangement nicht verzichten.

Seufzend machte ich mich an die Arbeit. Sie bestand darin, zuerst das vorhandene Tohuwabohu zu bereinigen, um es anschließend durch ein anderes zu ersetzen, welches dem mir vorgelegten Bild entsprach. „Finde die Unterschiede“ nannte sich Ganze wohl im Spiel und war in Wirklichkeit, wie stets, harte Arbeit. Den gewünschten Helm erhielt ich beim Zimmermann, einem weit gereisten Unikum, das etwas außerhalb der Stadt auf einer Halbinsel wohnte. Doch besagten Helm in exakt dem Winkel auf einer Stuhllehne zu positionieren, verlangte mir einiges an Geduld und ruhigen Fingern an.

Nachdem der Helm sich endlich am rechten Platz befand, trat ich zurück, wobei ich kaum zu atmen wagte. Ein Blick auf die Zeichnung verriet mir, welche Unterschiede weiterhin zwischen Uptasia und Paris bestanden und zu korrigieren waren. Das meiste Zeug liese sich leicht in der Stadt beschaffen, doch an einer Stelle schauderte mich: Da fläzte doch auf der Fensterbank dreist eine fette schwarze Katze! So ein selbstbewusstes Exemplar, das genau begriff, die Herrin im Haus zu sein. Katzen sind standorttreu – vorausgesetzt, man möchte gerade selbst auf den Stuhl, auf dem sie gerade sitzen. Aber doch nicht vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr! Eine Katze möchte jagen, spielen, essen gehen… oder sich beim Dösen einfach nur auf die andere Seite drehen. Wie sollte ich um Himmelswillen eine lebendige Katze in das gewünschte Bild einbauen?!

Nein, da verlangte mein Chef zu viel. Mein drittes „Kling“ konnte ich mir aus dem Kopf schlagen. Dabei war ich soweit gekommen! Mit gesenktem Kopf verließ ich die Bibliothek.

Gast

Re: (Story) Die 5 Aufgaben

Beitrag von Gast » Di 10. Nov 2015, 02:56

Mittlerweile hatte es draußen begonnen wie aus Kannen zu schütten. Sämtliche Pfade waren aufgeweicht und kaum mehr zu erkennen. In der Innenstadt würden die Gullys vollaufen, doch vermochte ich die Stadt derzeit nur aus vagen Schemen auszumachen. Ich befand mich ja im Gelehrtenviertel am äußersten Stadtrand.
Ich zog in Betracht, einfach umzukehren und in der Bücherei zu übernachten.
Wie ich noch so auf den Stufen des ehrwürdigen Gebäudes stand, drängte von draußen eine Gruppe Studenten Richtung Tür.
„Wollen Sie auch in die Stadt?“ erkundigte sich einer der jungen Männer. „Das ist derzeit unmöglich. Der Fluss ist dermaßen stark angeschwollen, dass er die Brücke überspült. Aus Sicherheitsgründen darf sie niemand überqueren, bis das Unwetter vorbei ist.“
Damit war es aus mit meinem „in Betracht ziehen“. Ich hatte nun keine Wahl mehr als hier zu bleiben.

Der Hausmeister servierte auch sogleich eine Tasse Kaffee für jeden von uns, zwar nur aus Gerste gebrühten Muckefuck, aber immerhin heiß. Wir klopften Karten, stellten uns Rätselfragen und versuchten, uns an Lieder aus unserer Kindheit zu erinnern. Wenn das nicht so gelang, wurde einfach neue Reime erfunden. Kurzum, in der Gesellschaft der Uptasier wurde es überraschenderweise noch ein lustiger Abend, der mich für kurze Zeit mein Dilemma zwar nicht vergessen ließ, mir aber Hoffnung einflößte.

Als es Zeit zum Schlafen wurde, versuchten wir es uns so gut wie möglich auf den harten Bohlen des Dachbodens bequem zu machen. Glücklicherweise lagerte der Bibliothekar hier ausgemusterte Ausrüstung seiner zahlreichen Expeditionen. Keine der Decken und Matten hätte einem Unwetter in der Wildnis mehr getrotzt. Und jedoch leisteten sie in dieser Nacht gute Dienste.
„Haha!“ lachte einer der Studenten. „Hier ist sogar ein Kuscheltier, falls wer nicht ohne schlafen kann!“
Ich fuhr herum. Fasste den Studenten ins Auge. Und handelte! Der arme Kerl stand wie vom Blitz getroffen, denn ich warf mich ohne Vorwarnung in seine Richtung und entriss ihm das soeben gefundene Stofftier. Wieso ich das tat? Na, weil es sich um eine Katze handelte! Und zwar um exakt das gleiche Kätzchen, das auf der Zeichnung abgebildet war, die ich im Arbeitszimmer des Professors nachstellen sollte.
Natürlich! Eine Plüschkatze würde alle meine Probleme lösen. Ein Spielzeug fiel höchstens mal runter, bewegte sich aber weder von selbst von seinem Platz, noch änderte es auch nur seine Haltung! Mit zitternden Fingern fügte ich das Stofftier dem Arrangement hinzu und trat dann einen Schritt zurück, um das nun vollständig dekorierte Zimmer in seiner Gänze zu bewundern.

„Kling!“

Am nächsten Morgen konnte ich mein Werk voller Stolz präsentieren.
Der Bibliothekar sparte nicht an Lob: „Alle Achtung, hier stimmt jede noch so winzige Einzelheit! Ich muss mich übrigens entschuldigen, Sie vor eine derartig gemeine Aufgabe gestellt zu haben. Aber sehen Sie, ich musste Sie prüfen. Ich suche nämlich jemand mit einem guten Auge fürs Detail, der mir an der Ausgrabungsstelle assisstiert. Nun ja, wenn ich Ausgrabungsstätte meine, so meine ich derzeit noch die Grube hinter dem Bergwerk. Sie spuckt allerlei Fossilien aus…“ Bei diesen Worten wies der Mann auf das in der großen Halle aufgestellte Skelett eines Allosaurus. Er erklärte mir, dass er die Forschungen in der Gegend um das Bergwerk in naher Zukunft groß aufziehen wolle und schloss mit der Frage, ob meinerseits wohl Interesse bestünde, die Funde dort abzuzeichnen und zu beschreiben?

Und ob!
Im Geiste hörte ich bereits das vierte, das vorletzte!, „Kling“, das mich meiner Befreiung einen weiteren Schritt näherbringen würde. Stattdessen sollte es dort draußen im Gebirge zu einer folgenschweren Begebung kommen…

Gast

Re: (Story) Die 5 Aufgaben

Beitrag von Gast » Di 10. Nov 2015, 22:10

Obgleich ich mir vorgenommen hatte, vom Gelehrtenviertel schnurstracks in die Berge zu reisen, hielt ich dann doch am Markt inne. Ich nahm mir Zeit, mich von Köchlein zu verabschieden, dieser packte mir noch ein großes Fresspaket und dann ging es los, immer der Straße nach. Ich verließ den Markt, ließ auch den Park hinter mir, durchquerte das Holzarbeiterviertel und betrat schließlich eine Landstraße. Von überall her winkten mir Menschen, doch ich bemühte mich, sie nicht zu sehen. Der Gedanke, dass all diese fleißigen und frohgemuten Existenzen nur Figuren in einem Spiel waren, die Enki jederzeit durch einen einzigen Klick auf den Löschbutton vernichten konnte, drehte mir den Magen um. Köchlein… die Studenten… mein neuer Chef, der Bibliothekar… die Erntehelfer, die die letzten Äpfel und Birnen des Jahres von den Bäumen holten… die Kinder, die auf den abgeernteten Stoppelfeldern nach übersehenen Feldfrüchten suchten… und auch ich, den es in diese Welt verschlagen hatte.

Unter derartig düsteren Gedanken erreichte ich schließlich die Brücke über den großen Strom, die zur Mine führte. Hatte ich mir darunter einen Stolleneingang vorgestellt, der einsam im Berg klaffte, so wurde ich eines Besseren belehrt: Das Gelände durfte sich beinahe schon als eigene Ortschaft bezeichnen!
Da ragten Wachtürme in die Luft, auf der bewaffnete Gesellen sich dabei ablösten, in den Nebel zu starren. Einige Arbeiter, denen der Weg aus der Stadt zu weit war, hatten eigene Hütten gebaut, vor denen ihre Kinder spielten. Das schönste Haus hatte sich der Steiger errichtet und wenn ich das richtig erkannte, betrieb der Mann sogar eine kleine Privatbrauerei in seinem Hinterhof…

Ein Hüttenwerk sowie einige weiterverabeitende Industrien hatten sich ebenfalls in nächster Nähe der Mine angesiedelt: Schmiede, Gießer, Schlosser, Graveure… Über dem Ganzen hingen dicke, fettige Rauchschwaden, die das Atmen und die Sicht erschwerten.
Gleich nebenan befand sich ein großer Steinbruch. Die Grenzen zwischen diesem und dem Bergwerksgelände waren fließend – im wahrsten Sinne des Wortes, denn ein weiteres Gewässer, der Abfluss eines riesigen Gebirgssees, trennte die Mine vom Steinbruch. Teilweise noch aus Holz, in den verkehsreichsten Abschnitten auch aus Eisen, gefertigte Schienen verbanden die beiden Gelände. Auf den Schienen rumpelten beständig Loren hin und her. Sie brachten Baustoffe wie Baumstämme, Kohle, Kalk und Sand dorthin, wo diese benötigt wurden, und transportierten Verkaufswaren (darunter Salz und Halbedelsteine) zu Fuhrwerken, die an der Brücke bereit standen, diese zum Markt zu kutschieren. Räder quietschten, Hunde bellten und das hämische Lachen einer Gruppe Lehrlinge über einen gelungenen Streich übertönte beinahe die Arbeitsgeräusche.
Obwohl man derzeit noch deutlich erkennen konnte, welches Gebäude zu welcher Einrichtung gehörte, würden sie bereits in wenigen Jahren zu einem einzigen industriellen Albtraum zusamengewachsen sein. Von allen Orten in Enkis Welt war ihr dieser am liebsten. Ich hingegen wäre am liebsten sofort wieder umgekehrt!

Ich hatte das Bergwerksgelände noch nicht richtig betreten, als ich jemand laut schimpfen hörte: „Ja zum Donner, wer lässt denn hier dauernd seine Latschen rumstehen? Wir sind doch hier nicht in der Schlosserei! Nu wäre bin ich schon wieder beinahe drüber geflogen!“
Bevor ich herausfinden konnte, wer sich da derartig lautstark beschwerte, musste ich auch schon einem Paar Stiefel ausweichen, das in meine Richtung geflogen kam. Die hatte der Schimpfende nämlich in seiner Wut nach mir gekickt.

Nachdem ich dem Geschoss entronnen war, blickte ich mich um.
Keine drei Meter von mir entfernt stand jemand. Ob Mann oder Frau ließ sich nicht erkennen, auch die Gesichtszüge wirkten irgendwie verschwommen. Selbst die Frage nach der Kleidung der Person, vermochte ich nicht zu beantworten. Doch als ich die Begleiter der Gestalt erblickte, wunderte ich mich nicht mehr über die merkwürdige Erscheinungsweise des Männleins: Auf einer Schulter hockte eine Eule und zu seinen/ihren Füßen saß eine feuerrote, getigerte Katze. Kein Zweifel – vor mir stand der Avatar eines Uptasia-Spielers!
„Bist du der Neue?“ begrüßte mich die Figur. „Nun, denn. Ich bin Enki.“

Gast

Re: (Story) Die 5 Aufgaben

Beitrag von Gast » Do 19. Nov 2015, 02:02

Enki! So stand ich also derjenigen gegenüber, die mich hier in diesem Spieleaccount eingesperrt hatte! Ich hatte lange darüber nachgedacht, was ich tun oder sagen würde, käme dieser Moment. Nun, da er eingetreten war, stiefelte ich einfach vorwärts. Ich schob das Avatar-Männlein-Weiblein grob zur Seite und schnarrte: „Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen!“

„Zur Schlosserei geht es aber dort l…“ hub die Püppi an zu sprechen. Doch mitten im Satz stockte sie, als ihr auffiel, wohin ich unterwegs war: Nämlich ganz und gar nicht zu ihrer Schlosserei, in der sie vermutlich einen neuen Slot geöffnet hatte, sondern zur Mine, über der nur für Spieleraugen sichtbar das Symbol „offene Freundschaftsaufgabe“ rotierte.
„Oh, so ist das also“, hörte ich sie flüstern.
Enki setzte sich in Bewegung, mir hinterher. Sie überholte mich, baute sich vor mir auf und meinte: „Das wird dir nichts nützen.“
„Soll das eine Drohung sein?“
„Eine Feststellung.“

Ich schwieg. Wir standen uns gegenüber wie zwei Duellanten, die darauf warteten, dass der andere blinzelte, was natürlich Unsinn war, da diese Avatarfigürchen keine Augen aufwiesen.
Schließlich fragte Enki, ob ich einen Apfel wolle. Sie habe gerade eine Obstplantage eingeweiht, aber die Kunden zeigten kein Interesse an den Früchten.
„Jetzt drehst du mir also deinen alten Ramsch an?!“ fauchte ich.
Die Püppi warf beide Arme wie entschuldigend in die Luft. „Ich versuche nur Smalltalk zu machen“, erklärte sie. „Tut mir leid, darin bin ich nicht gut.“
Sie wagte einen Schritt auf mich zu, das heißt, sie setzte einen Fuß nach vorn, ohne den zweiten nachzuziehen.
„Dafür verstehe ich mich auf Fälle wie den deinen“, erklärte sie dabei. „Weil ich etwas Ähnliches schon einmal in einem anderen Spiel… öhm, in einer anderen Stadt erlebt habe.“

Irgendwie überraschte mich diese Aussage weniger, als ich erwartet hatte. Ich hatte ja selbst erlebt, was im Universum möglich war, da anzunehmen, ich sei ein Einzelfall, wäre wohl sehr ichbezogen gewesen. Ich nickte sogar unwillkürlich, was Enki zur Aufforderung, weiterzusprechen, nahm:

„In der Nacht vor Allerheiligen, wenn die Wände zwischen den Welten dünn werden, kann allerdhand passieren. Einst fertigten die Menschen Laternen aus ausgehöhlten Rüben an, die den verirrten Seelen den Weg ins Jenseits leuchten sollten. Das müssen wohl einfache Zeiten damals gewesen sein. Im Computerzeitalter hingegen können die verrücktesten Sachen geschehen. Wie das, was dir zugestoßen ist.“
Enki legte den Kopf schief.
„Sag, hast du kürzlich jemanden enttäuscht oder im Stich gelassen?“
Was hätte ich darauf antworten sollen? Leugnen war zwecklos, das Mädel hatte ja richtig geraten. So gestand ich also, wie ich Schwiegermutter angelogen gatte, ich sei kran, und könne weder zu ihrer Halloweenparty erscheinen, noch ihr bei der Vorbereitung helfen.
„Ich verstehe“, nickte Enki. „Du wolltest lieber mit deiner unmittelbaren Familie feiern.“
„Nein überhaupt nicht“, erwiderte ich zerknirscht. „Denen habe ich denselben Schwindel aufgetischt. Sie sind dann allein gegangen.“
„Nun, ich würde sage, das war für alle Beteiligten am Besten so“, kommentierte Enki. „Aber dein Unterbewusstsein scheint sich deiner Taten zu schämen. Deswegen musst du jetzt von Tür zu Tür ziehen und den Uptasiern helfen.“

Auf eine verdrehte Weise ergab das sogar Sinn. Doch sinnvoll oder nicht, ich wollte einfach nur hier raus!
„Ich möchte zurück!“ presste ich hervor.
Dann stellte ich eine Frage, die ich bereits bereute, bevor sie vollends meine Kehle verlassen hatte: „Du, Enki? Dieser andere Fall, bei dem du dabei warst, wie ich der ausgegangen?“
„Der kleine Junge kehrte nach Hause zurück, und dort war gerade einmal eine Stunde vergangen. Aber er hat mir nie erzählt, was er dafür opfern musste.“
„Er kam zurück?“
„Ja.“
„Und in der Zeit reiste er ebenfalls zurück?“
„Auch das.“ Enki kicherte. „Du wirst also die Halloweenparty doch mitfeiern müssen.“
„Das will ich ja! Jetzt will ich es! Weil ich jetzt erst begriffen habe, wie sehr mir meine Leute am Herzen liegen!“
„Ja, das verstehe ich“, stimmte mir Enki zu. „Wenn man jemand jeden Tag um sich herum hat, dann nimmt man das als selbstverständlich wahr. Oft genug nervt es einen sogar. Aber wenn sie fehlen... oder du ihnen… Komm, lass uns jemand aufsuchen, der diese Welt besser versteht als du und ich. Ich nenne diese Stadt hier meine, aber ich bin ebenso ein Besucher wie alle anderen.“
„Mit dieser kundigen Person meinst du die Lady?“
„Genau die.“


War wohl kein guter Zeitpunkt, um mit einer Story anzufangen. So richtig habe ich keine Zeit hierfür, die nächsten Kapitel werden also etwas schleppend folgen.

Gast

Re: (Story) Die 5 Aufgaben

Beitrag von Gast » Sa 5. Dez 2015, 02:17

Ich fühlte mich wie Bastian, als Enki und ich zur Villa der Lady aufbrachen. Enki wurde in meiner Fantasie zur Atreju und die Lady zur kindlichen Kaierin in ihrem Turm. Anstelle einer Reihe von Fabelwesen begleiteten uns zwar nur Enkis Tiere, und ich hatte auch nicht vor, König von Fantasien zu werden, sondern wollte nur rasch wieder heim, doch davon einmal angesehen ähnelte meine Situation der des Kinderbuchhelden. Um mich vom Ernst der Lage abzulenken, erging ich mich in weiteren Vergleichen, führte gedanklich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen mir und dem Knaben Bastian auf und verkroch mich dabei in mein Schneckenhaus. Enki stapfte ungerührt neben mir her. Mittlerweile hatte es zu schneien begonnen. Sanft rieselten die Flocken auf uns herad, tauten aber auf unserer Kleidung und unter unseren Fußtritten sofort wieder. Schnee im November? Na klar, dachte ich bei mir, im 19. Jahrhundert steckten wir ja noch in den letzten Zuckungen der Kleinen Eiszeit.

Um überhaupt etwas zu sagen, teilte ich meine Erkenntnis bezüglich der Eiszeit Enki mit. Prompt wünschte ich mir, es nicht getan zu haben, denn was folgte, bestand in einer Aufschlüsselung der Begrifflichkeiten, die darin mündete, dass wir uns wohl auch im Jahre 2015 noch in der Eiszeit befanden, wenngleich in einer Warmperiode. Von einer Eiszeit spräche man nämlich, solange die Polkappen eines Planeten vereist waren, was ja in unserer Gegenwart der Fall war. Nett zu wissen, wenngleich momentan wenig hilfreich.
„Weißt du das alles von Berufs wegen oder ist das etwas, womit du dir die Zeit vertreibst, wenn du gerade nicht wimmelst?“ hakte ich nach.
„Macht das einen Unterschied?“ erwiderte mein Begleiter unerwartet schroff. „Und wenn ja, in welchem Fall ist Wissen denn weniger wert? Wenn es kein Selbstzweck ist, sondern „nur“ dem Broterwerb dient? Oder wenn es von keinerlei Diplom gestützt wird, sondern „nur“ ein Hobby ist?“
Sekundenlang starrte ich den gesichtslosen Avatar verständnislos an. Dann flüsterte ich: „Dir ist aber schon klar, wie schlecht es mir geht, oder? Für derlei Haarspaltereien habe ich jetzt wirklich keinen Nerv!“
Das Männlein zuckte die Schultern. „Es kann nicht schaden, ein wenig gelehrten Smalltalk zu betreiben, wenn man gleich einer Arisktokratin des vorletzten Jahrhunderts gegenübertritt“, meinte es. „Selbst, wenn das eigene Anliegen noch so dringend ist.“
„Dann übernimm du das für mich“, erwiderte ich. „Denn ich kann einfach nicht mehr.“
„Okay.“
Enkis „okay“ klang so un-neunzentesjahrundert-isch, dass ich unwillkürlich lachen musste.

Während wir weiter Richtung Stadt wanderten, intensivierte sich das muntere Schneegestöber. Auf den Wiesen links und rechts des Weges sammelte sich der Schnee, da mittlerweile mehr Flöckchen fielen, als schmelzen konnten. Nach und nach legte sich eine hauchdünne Schneedecke über das gesamte Land Uptasia. Die Umgebungsgeräusche wurden leiser, Gespräche der anderen Passanten in unserer Nähe gar vollständig geschluckt. Zu sehen vermochte man schon bald nur noch ein paar Meter weit.
„Soll ich das abstellen?“ erkundigte sich Enki plötzlich.
„Wie bitte?“
„Ob ich den Schnee ausschalten soll. Das wäre mit zwei Klicks erledigt…“
„Ich – nein, um Himmelswillen, tu das nicht!“
„Okay. Sag einfach Bescheid, solltest du es dir anders überlegen.“
Kopfschüttelnd stapfte ich weiter den Pfad entlang. Nicht, dass ich so ein großer Freund der Kalten Jahreszeit gewesen wäre, nein, das nicht. Ich mochte nur nicht dermaßen deutlich daran erinnert werden, dass wir uns im Inneren eines Computers befanden. Eine andere Welt, eine magische sogar, ja, damit konnte ich noch einigermaßen leben. Aber eine Festplatte in irgendeinem Bürogebäude in Bamberg? Nein, diese Vorstellung war zu gruslig, schauriger als jede Halloweenparty!

Andererseits begann ich wieder Hoffnung zu schöpfen, nachdem ich mir Enkis Angebot noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Als Spieler dieses Accounts verfügte er oder sie ja über ein gewisses Maß an Kontrolle über unsere Umgebung! An Enkis Seite war ich dieser fremden Welt nicht mehr ganz so hilflos ausgeliefert. Naja, sie war eben Atreju, um bei meinem Vergleich von vorhin zu bleiben.
„Kannst du“, begann ich. Ich stockte, räusperte mich und setzte erneut an: „Würde es dir etwas ausmachen, diesen Pfad durch Pflastersteine zu ersetzen?“
Der Weg wurde nämlich zunehmend matschiger.
Enki nickte „Einmal Zivilisation, kommt sofort.“
Wie von Zauberhand verwandelte sich der vor uns liegende Feldweg in eine befestigte Straße. Bei meinen ersten Schritten darauf wäre ich beinahe ausgerutscht, doch in dem Maße, in der Schnee liegenblieb und sich verfestigte, lief es sich auch weitaus angenehmer.
Bloß umdrehen durfte man sich tunlichst nicht, wollte man nicht wahnsinnig werden. Denn dort, in unserem Rücken, flogen beständig die teuren Wegteile in die Luft, um wieder durch den festgestampften Feldweg ersetzt zu werden.
„Was denn?“ beschwerte sich Enki. „So dicke habe ich es nicht, dass ich wegen dir meine ganze Karte zupflastern könnte. Das sind insgesamt nicht mehr als zehn Plattenwege, die ich beständig hinten wegnehme und vorne wieder dran baue. Später verlege ich die im Zimmermannsviertel, das hatte ich eh schon längere Zeit geplant.“
In diesem Moment ließ ich sämtliche meine Literaturvergleiche fahren. Denn diese, meine Reise, hatte rein gar nichts von der Würde der Geschichte aus meiner Kindheit. Nein, das hier war einfach nur verrückt!

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