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von Gast » Mi 5. Jun 2013, 01:25
In jenen Tagen hörte man von Mönchen, die übers Land zogen und den Menschen die Gnade verkauften. Sofern eine Sünde durch die Beichte vergeben war, so konnte der Mann von Welt einen Ablassbrief erstehen, der ihm zusätzlich auch noch die Strafzeit im Fegefeuer erließ. Die Voraussetzungen dafür waren streng geregelt und sorgfältig niedergeschrieben, sie zu verstehen konnten sich nur wenige rühmen. Das musste aber auch niemand, denn in der Praxis zählte nur die Frage, wieviele Münzen derjenige einzusetzen bereit war und wie schnell er sie aus dem Geldbeutel herausholte. Enki hörte man lautstark über derlei Praktiken wettern. So ein Mönch käme ihm nicht auf seinen Hof, egal, wie sehr er sich mit kleinen Gaben anbiedere!
„Dann ist es ja gut, dass ich mich nur auf der Durchreise zu euren Nachbarn befinde“, hörte der Spielmann da eine weiche, leicht amüsiert klingende Stimme. Sie gehörte – genau, einem Mönch.
Enki seufzte. Er hielt sich in letzter Zeit immer seltener in Mühlingen auf und ausgrechnet an dem einem Tag im Monat, an dem er das Dorf besuchte, musste so ein Kuttenträger vorbeischauen? „Das Fegefeuer“, schoss der Spielmann zurück, „ist kein Ort, sondern ein Zustand der Reinigung, soviel weiß jeder, der lesen kann! Es heißt, die Seelen nehmen diese Qualen freiwillig auf sich, weil sie im Angesicht Gottes gewärtig werden, wie unrein sie eigentlich sind! Erst, wenn sie genug Reue empfunden haben, ziehen sie ins Paradies ein. Das ist etwas Großes, etwas Wundervolles, das kann man nicht einfach abkürzen, indem man 150 Goldnuggets in eine Kasse wirft!“
Der Mönch lachte! Enki fühlte sich verspottet. Wenn ein Mann der Kirche lachte, wenn man über Gott sprach, dann war das in den Augen des Spielmanes ein deutliches Zeichen dafür, dass es diesen Leuten nur noch um ihr liebes Geld ging.
„Wer ist der gläubigste Mann in diesem Dorf?“ erkundigte sich der Mönch, während er sich die Lachtränen aus den Augen wischte.
Enki dachte nach. Sicherlich wusste er selbst am meisten über die Kirchenlehre, doch das machte ihn nicht fester im Glauben als einen Ungebildeten. Aber wer, außer dem nach Freidorf gezogenen Paule, hatte im letzten Jahr mit ihm über Gott gesprochen? Eigentlich kam da nur einer in Frage: „Ottmar… denke ich. Unser Schulze.“
Der Mönch erkundigte sich, ob dieser Ottmar wohl Grund habe, das Fegefeuer zu fürchten. Als Enki auf diese Frage nur eine starre Miene aufsetzte, nahm der Mann dies als ein deutliches „Ja“. Er bat den Spielmann, ihn zusammen mit Ottmar an der Mühlenbäckerei zu treffen. Dort führte er die beiden zu Trudis großem Ofen. Die Bäckersfrau holte gerade zwanzig Roffenbrote mit knuspriger Kruste heraus. Eine Wärmewolke entströmte dem Backofen. Der Mönch sah Enki die Augen zukneifen. „Um nichts in der Welt möchtest du da hinein, nicht wahr, mein Sohn?“
„So ist es!“ Der Spielmann trat einen Schritt zurück. „Aber wenn meine Seele doch glaubt, es nötig zu haben, dann muss es wohl sein. Ich werde nicht einfach den leichten Weg gehen…“
„Leicht, hm?“ Wieder lachte der Mönch, wie jemand, der mehr wusste als ein verstockter Schüler. Er wandte sich an Ottmar: „Wir sprachen über das Fegefeuer, guter Mann. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt?“
Ottmar blickte von einem zum anderen. Wohl war ihm nicht bei dieser Begegnung, fürchtete er doch, dass es sich noch um eine Spätfolge seiner in Unzucht verlebten Jahre handelte. Dem Mönch antwortete er, dass er es sehr gut könne. Das Fegefeuer sei wohl nicht so heiß wie die Hölle, aber schmerzhafter als das Feuer jedes Ofen auf Erden. „Schlimmer als sie alle zusammen“, bekräftigte er.
„Dennoch ist es ein Weg, den wir alles beschreiten müssen“, behauptete der Mönch. „Was, wenn du dich nun von dieser Pein freikaufen könntest?“
„Frei-kaufen? Mit Geld?“ Ottmar beäugte skeptisch den Backofen. Der war längst nicht abgekühlt. Die Hitze war stark, beinahe schmerzhaft, auf der Haut zu spüren. „Ich… äh… Sprechen wir über sehr viel Geld?“
Der Mönch schmunzelte, als er Auskunft gab: „Eine deinen Verfehlungen angemessene Summe, mein Sohn.“
„Himmelherrgottsakrament Maria und Josef!“ schrie Ottmar. Er gestikulierte wild mit den Armen. „Vergesst das! Von mir bekommt ihr nichts!“
Enki trat einen Schritt vor. Er versetzte Ottmar einen Stubbs, so dass dieser in Richtung des Backofens taumelte. Der Schulze verlor das Gleichgewicht und sah sich in den Ofen fallen wie die Hexe im Märchen. „Neiiiiiiiiiin!“ schrie er. „Hilfe! Heiß, heiß, heiß!“ Geistesgegenwärtig packte Enki den Freund an dessen Gürtel. Er zerrte ihn zurück, heraus aus der Gefahrenzone. Ottmar drehte sich um. Sein Gesicht war hochrot und sein Atem ging schwer. „Danke“, sagte er zu Enki, doch schon nach diesem einen kurzen Wort fuhr er zu dem Mönch herum. Wenn dieser sich einbilde, ihm sein Geld abluchsen zu wollen, so täusche er sich schwer, rief der Schulze! Bevor er das täte, hüpfe er lieber freiwillig nochmal in den Backofen.
„Oder eben ins Fegefeuer“, bemerkte der Kirchenmann zu Enki. „Siehst du jetzt mit eigenen Augen, was du mir vorhin an der Kutschenstation niemals geglaubt hättest? Obwohl er einen Vorgeschmack auf das Fegefeuer erhalten hat, schmerzt es diesen Mann noch mehr, sich von seinem Geld zu trennen. Glaub mir, das ist ein großes Opfer, das die Ablasskäufer zu bringen. Die Reichen kennen ihre dunklen Seiten und sie verspüren Furcht um ihr Seelenheil. So schlimme Furcht, dass sie sogar ihr Geld hergeben. Sie wählen nicht den leichteren Weg, sondern den schwereren. Mehr kann ich nicht verlangen.“
Der Spielmann schwieg lange. War der Mönch ein Träumer? Ein Menschenkenner? Enki kam zu dem Schluss, dass es keine Rolle spielte. Ob das, was der Kuttenträger ihm da als Lehre vermitteln wollte, nun stimmte oder nicht, war nicht von Bedeutung. Wichtig war nur, dass der andere es selbst glaubte. Er verkaufte den Menschen Ablässe, weil er es für ein gutes Werk hielt. Dieser eine Mönch, so erklärte der Spielmann daher, sei ihm in Zukunft stets willkommen.
Mit Bedauern erklärte der Mönch, dass er bereits anderswo erwartet werde. Als er die Kutsche bestieg, winkten Ottmar und Enki ihm noch lange nach, der Schulze reichlich verwirrt, Enki in nachdenklicher Stimmung. Er hatte die Chance verpasst, Mühlingen zu einem neuen Bewohner mit einem guten Herzen zu verhelfen. Aber vielleicht würde man sich eines Tages ja wiedersehen.