Die Dorfchronik von Mühlingen

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Fr 6. Dez 2013, 20:31

Etwa 25 Jahre früher:

Moorungen war ein Dorf in der Baronie Bachental, welche wiederum ein vom Bamberger Grafen vergebenes Lehen war. Seinem Namen machte die Ortschaft alle Ehre, denn gleich hinter den letzten Hütten der Unfreien begann der Sumpf. Früher hatten hier allerlei heidnische Kulte Opferzeremonien abgehalten, heutzutage musste man nur noch um sein Leben und nicht um sein Seelenheil fürchten. In den letzten Jahren war zudem Anweisung an die Dörfler ergangen, in den Randgebieten des Moores eine Karpfenzucht zu betreiben.
Der kleine Enno-Kilian kannte sein Heimatdorf nicht anders als mit dem großen Teich mit seinem trüben, grünlichen Wasser, in dem die behäbigen Tiere beinahe bewegungslos standen und fett wurden – außer natürlich, es gab etwas zu Futtern, dann entwickelten sie ungeahnte Schnelligkeit und Agilität.
Enno saß am Ufer, beinahe verborgen zwischen den Schilfhalmen, und arbeitete angestrengt an seinem Geschenk. Der Knabe besaß nichts, was er hätte verschenken können. Nein, halt, das stimte nicht ganz. Ein Säckchen Murmeln hatte er zum letzten Namenstag von Stefan erhalten, aber das zählte nicht. Denn Geschenke gab man niemals weiter, das gehörte sich einfach nicht! Außerdem war Ennos Geschenk für den lieben Gott gedacht, dem ja ohnehin schon alles gehörte. Was also hätte man dem Himmlischen Vater geben können? Nun, eine Sache gab es da schon…
Der Herr Pfarrer lag seit seinem Besuch am Lager eines Kranken darnieder. Was, wenn er nun am Sonntag nicht genug Kraft fände, die Messe zu lesen? Oder gar Weihnachten nicht die Weihnachtsgeschichte! Dann musste jemand einspringen und Enno hielt sich für denjenigen.
Aus einer Laune heraus hatte der Dorfschulze dem kleinen Knecht Lesen und Schreiben beigebracht. Sein eigener Sohn, Arnold, strengte sich nämlich nicht genügend an, sich diese Fertigkeit anzueignen. DerSchulze hoffte, seinen Sprössling dadurch zu beschämen und zu größerem Lerneifer anzuspornen. Von einem spillrigen Knaben aus dem Gesindehaus übertrumpft zu werden, das konnte man ja nicht auf sich sitzen lassen, fand der Vater.
Enno-Kilian begriff das alles noch nicht. Er war einfach nur dankbar und um der Gemeinde etwas von seinem Glück zurückzugeben, hatte er sich vorgenommen, die Weihnachtsgeschichte aufzuschreiben. Natürlich nicht auf Latein, sondern so, wie er es eben nur vermochte. Leicht fiel dem Knaben das nicht, denn vorher war ja noch so vieles andere geschehen, was auch wichtig war! Vom Teufel und dessen Aufstand mochte das Kind nicht schreiben. Es fürchtete, den Höllenfürsten damit womöglich zu rufen. Also begann Enno bei Adam und Eva. Sorgfältig malte er die Buchstaben mit Kreide auf eine Tafel…

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 8. Dez 2013, 00:38

Und so las sich Enkis erstes Werk:

Adam und Eva lebten im Garten Eden (das ist das Paradies). Ihnen ging es gut. Sie durften von allen Früchten essen, die dort wuchsen. Nur vom Baum der Erkenntnis durften sie nicht naschen. Da wuchsen Äpfel dran, die sind sehr teuer und kosten Goldbarren. Aber damals noch nicht.
Eva pflückte einen Apfel. Adam hatte die Räuberleiter für sie gemacht! Er mochte die Eva nämlich sehr. Aber nicht so, wie Erwachsene sich mögen. Das gab es damals auch noch nicht und es ist auch eklig und laut und gottlos.
Eva biss in den Apfel. Der schmeckte gut! Koste auch mal, Adam!
Adam biss in den Apfel. Da kam der liebe Gott des Wegs. Adam und Eva erschraken sehr. Der Adam warf den angebissenen Apfel in ein Gebüsch.
Gott sah sofort, dass ein Apfel vom Baum fehlte, denn er kennt jeden Namen und jedes Tier und auch jede Pflanze.
Was habt ihr getan, ihr Menschen! Gott war sehr zornig. Er dachte, die beiden hätten den Apfel ganz aufgegessen und wüssten nun, was Gut und Böse ist. Böse sollten sie aber nicht werden. Er verbannte sie deswegen auf die Erde.
Und den Apfel hat die Schlange gefressen, die da rumkroch.
Gott ließ sich dann jeden Tag von den Engeln berichten. Was die Menschen auf der Erde so trieben. Es gab jetzt schon ganz viele von ihnen, weil sie nun wussten, wie das mit Mann und Frau im Stroh geht und der Kain hatte auch schon den Abel erschlagen. Aber was gut und böse war, wussten sie immer noch nicht. Das hat Gott nicht gewusst, er hat gedacht, sie tun das Böse absichtlich. Deswegen kam dann die Sintflut und der Regenbogen war wunderschön. Aber danach wurde es noch viel schlimmer und da hat Gott seinen Sohn schicken müssen.


Die Enno-Kilian-Ausgabe der Bibel wurde nie vollendet, denn in diesem Moment packte eine Männerhand den Knaben und schüttelte ihn kräftig durch. Nie wieder solle er sich wagen, so etwas zu schreiben!
„Aber jetzt kommt doch der Teil mit Jesus, da stehen nur lauter gute Sachen drin!“ schrie der kleine Enno. Er fühlte sich ungerecht behandelt. Viele Tage hatte er an seinem Werk gesessen, wann immer er eine Minute für sich gefunden hatte. Ganz eng hatte er eine Schiefertafel, wie sie im nahem Steinbruch gehauen wurde, damit beschrieben und die Kreide feucht gemacht, damit sie besser hielte. Und nun zerschlug Stefan die Tafel einfach auf einem Feldstein und warf die Trümmerstücke in den Karpfenteich? Sein eigener Va… Stiefvater?!
„Du bist so verdorben, dass es dir nichtmal erlaubt sein sollte, den Namen des Herrn in den Mund zu nehmen!“ rief der Erwachsene. Aus dem geflochteten Zaun, der den Teich umgab, riss er eine Weidenrute, die er gegen Enno erhob. Klatsch! Und gleich nochmal!
Tränen traten dem Kind in die Augen. „Ich weiß…“ schluchzte es. „Ich weiß…“
Allmählich erlahmten die Hände des Erwachsenen. Zappelnde Stiefkinder zu schlagen war anstrengende Arbeit! Auch das gehörte zu den Dingen, die Stefan dem Jungen vorhielt.
„N fauler Baum trägt keine guten Früchte“, wimmerte Enno. „Sagt der Pfarrer. Mein richtiger…“ Der Knabe holte tief Luft, dann platzte es aus ihm heraus: „Mein richtiger Vater war bestimmt ein Verbrecher, nicht wahr? Du kannst mir das ruhig sagen.“
Für einen Moment wirkte der Vater, als wolle er Enno gleich noch einmal doppelt so kräftig prügeln. Doch dann senkte er nur den Kopf. „Nein…“ Erneutes Kopfschütteln. „Nein, so ist das nicht. Es ist schwer… für mich. Du verstehst das besser, wenn du mal groß und selbst ein Mann bist.“
Enki legte den Kopf schief. „Ein großer Mann?“
Das brachte den Stiefvater dann doch zum Lachen! „Ja, haha, du wirst mal ein großer Mann!“

Der Tag hätte noch ganz gut werden können. Enno flitzte über die Wiese zum Gesindehaus, wo sein bester Freund Arnold, der Sohn des Dorfschulzen, herumlungerte. Vor Erleichterung konnte er kaum an sich halten, er musste es einfach herausbrüllen: „Arno, Arno, mein Vater ist doch kein Verbrecher!!!“
Arnolds Blick fiel auf Stefan, der hinter Enno hergelaufen kam und den er für dessen Vater hielt. Und nicht nur das Kind, auch die Dörfler, die Ennos Ausruf mitgehört hatten, warfen dem armen Knecht nun vielsagende Blicke zu. Sie begannen zu tuscheln…

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Fr 13. Dez 2013, 14:16

Moorungen, etwa 20 Jahre vor der „Gegenwart“:

Es war nicht geplant gewesen. Niemand hatte im Vorfeld davon gesprochen und es gab auch kein Fest, weil eben keiner gewusst hatte, dass es passieren würde. Die Kutsche war einfach so erschienen, die Mutter hatte ihren Sohn vom Feld in Richtung Landstraße geschoben und gezischelt, dass der Landesherr in dem Gefährt säße.
„Ja – und? Glaubst du, der hält an und redet mit uns?“ Enno-Kilian musste sich doch sehr wundern. Nach allem, was er über die Welt gelernt hatte, würde der Baron von Bachental nicht einmal bemerken, dass da Menschen auf dem Feld arbeiteten. Und dass die Erika mit seinem Kinde hier lebte, hatte der hohe Herr sich längst vergessen.
Als die Kutsche sich näherte, warfen sich die Dörfler demütig auf den Boden. Erika bedeutete ihrem Jungen, es ihnen gleich zu tun.
„Dass man dir das überhaupt noch sagen muss… du bist doch kein Kind mehr… manchmal weiß ich wirklich nicht, wo bei dir der Verstand geblieben ist…den Tag möchte ich erleben, wo du uns mal keine Schande machst…man muss sich immer nur schämen für dich… als der Dorftrottel wirst du enden…“ nuschelte sie vor sich hin, während Enno der elterlichen Anweisung Folge leistete. Der Junge kannte die Litanei längst auswendig. Normalerweise endete sie in der an den Himmel gerichteten Frage, wieso von allen Kindern Erikas ausgerechnet er überlebt hatte.
„So kommts“, dachte Enno, als die der Kutsche voran reitenden Herolde die Bauerngruppe passierten. „Erst vor dem Stiefvater mit der Rute den Rücken krumm machen und jetzt vor dem richtigen.“
Nur so richtig krumm wollte der Buckel nicht werden. Der Schnee des Winters war noch nicht vollständig geschmolzen und die Bauern bereiteten die Felder für die Aussaat vor. Anstrengende Arbeit war das, der Rücken des Jungknechts schmerzte und er sah nicht ein, hier jetzt irgendwelche Verrenkungen vorzuführen, wenn er hinterher weiter arbeiten sollte. Seinem Baron diente er viel besser durch ehrliche Arbeit als eine dahingeheuchelte Verbeugung, die dieser gar nicht sah. Von daher war es nicht weiter verwunderlich, dass plötzlich schwere Stiefel neben Enno-Kilian auf dem Boden aufsetzten und jemand schnarrte: „Das geht auch tiefer, Bursche!“
„Gott hat die Rollen verteilt, einen jeden auf seinen Platz gesetzt“, erwiderte Enno trotzig, so dass es auch keinen Unterschied mehr machte, dass er sich wie befohlen zwischen die restlichen Dörfler auf die Knie… nun ja, nicht gerade warf, aber doch zumindest senkte. „Da müsste der Herr dem Knecht denselben Respekt zurückzahlen, den er von ihm empfängt. Sonst ist´s Gottes Werk mit Füßen treten!“
Entgeistert starrten die Moorunger Enn-Kilian an. Dieser vermutete, dass die vielen Silben auf einmal sie schlichtweg überforderten. Auch dem Fahnenträger des Barons fehlten für einen Moment die Worte. Dann verlangte er zu wissen, wer es da wage, solche Reden zu schwingen.
„Enno-Kilian, der Sohn der Magd Erika“, gab der junge Arnold im Namen der Dörfler Auskunft.
„Ach, sieh an, der Sohn einer Erika. Vater wohl unbekannt?“
„Vater Verbrecher, ich trage seinen Namen nicht“, versetzte Enno.
„Da würde ich an deiner Stelle das Maul nicht so weit aufreißen!“ Der Mann versetzte Enno einen Tritt. Er hatte einen überaus schlechten Tag gehabt und seinen Ärger an dem spillrigen Hörigen auszulassen, verbesserte seine Stimmung ungemein. Aber er setzte nich eins drauf: „Dein Leben ist ein unrecht erworbenes Gut, wenn du es einem Verbrechen verdankst! Tu gefälligst Buße!“
„Ich war an dem Verbrechen nicht beteiligt – aber ich bin jederzeit gern bereit, den Täter zu bestrafen!“
Der kollektive Schock der Dörfler, der auf diese Worte folgte, teilte dem Herold mit, dass er einen Fehler begangen hatte. Anstatt sich kurz abzureagieren und dann weiterzureiten, schien er etwas ausgelöst zu haben, das Folgen nach sich ziehen musste. Am Ende würde der Herr Baron anhalten müssen und sehr ungehalten über die Störung sein. Machte sich dieser dumme Junge überhaupt keine Vorstellung davon, in welchen Schlamassel er ihn (und nebenbei auch sich selbst, aber das zählte nicht) da brachte?! Und gleich würde die Kutsche heran sein!
Da erhob Erika ihre Stimme…

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Sa 14. Dez 2013, 14:53

„Bitte… seht es dem Jungen nach!“ flehte Erika. „Er ist nicht ganz richtig im Kopf… von Geburt an… Er versteht gar nicht, was er da sagt!“
Auch der Herold verstand nur die Hälfte, da er ja nicht wusste, wer jener Vater war, den der Halbwüchsige da „bestrafen“ wollte. Schon wollte er Enno-Kilian einfach zurück in die Menge stoßen und weiterreiten, als Stefan vortrat. Der Ackerknecht erklärte, dass er die Verantwortung für Erikas Sohn übernommen habe und es nicht zulassen dürfe, dass dieser mit seinen Flausen am Ende das ganze Dorf in Verruf brächte. „Es reicht!“ bekräftigte Stefan. „Die Sache kommt vor den Vogt und das Kuckuckskind mir aus dem Haus!“
Er packte seinen Stiefsohn am Arm, hielt ihn fest und zerrte ihn fort, so wie die herrschaftliche Kutsche vorbei gerattert war.
Besonders die Gleichaltrigen und die Kinder hatten ihren Spaß daran, dem vorlauten Angeklagten nachzulaufen und ihn zu verhöhnen. Nur drei der Mädchen beteiligten sich nicht an dem Spotten. Sie hießen Gähke-Liese, Trine und die Hübsche, letztere, weil sie hässlich war. Die Gähke bekam immer ihren Moralischen (was immer das bedeuten sollte) und die Trine mochte niemand leiden, weil sie stank. Enno stank ebenfalls am Ende jedes Arbeitstages, aber Trine musste auf eine Weise stinken, für die seine Nase nicht gut genug war. Vermutlich musste er dankbar dafür sein, ihn nicht wahrzunehmen.
Man durfte den Moorungern nicht absprechen, dass sie dachten, fand Enno-Kilian angesichts der Benennungen, aber ihr Denken funktionierte irgendwie anders als seins. Er nannte die Mädchen Liesl, Tine und Dörte und sie heute wegen ihm weinen zu sehen, führte dem Jungen vor Augen, was er angerichtet hatte.
Aus Stefans Hand kam Enno-Kilian in die des Schulzen, dem der Junge eine einzige Frage stellte. Nicht, wie es nun mit ihm weiterginge, sondern ein ungewohnt klägliches „Bin ich denn wirklich so anders als die anderen?“.
„Ich kann dich tröstem, solche wie dich hat es immer gegeben. Und nun das Geheimnis: Sie sind alle nicht alt genug geworden, um ihre Ansichten weiterzugeben.“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 15. Dez 2013, 00:49

Enno-Kilian hatte stets geglaubt, dass man erst vors Gericht kam und dann in den Kerker. Genaugenommen war es andersherum. Der Vogt war ein viel beschäftigter Mann und bis zum Gerichtstag durfte man schon einmal in einer Zelle probesitzen. Es war erstaunlich friedlich in so einem dunklen Loch, fand Enno. Man brachte ihm Essen, niemand verlangte von ihm bis zum Umfallen zu arbeiten und das Wetter blieb hübsch draußen. Die Schließer lachten sogar Tränen über all die wirklich guten Witze, für die der kleine Gefangene daheim stets Ohrfeigen kassiert hatte. Wenn nur die Angst nicht gewesen wäre… und die Zeit, die viel zu schnell verstrich…
So war das also. Man konnte satt, ausgeruht und in Sicherheit sein und dennoch unzufrieden.

Von dem Prozess selbst bekam Enno nur wenig mit. Er antwortete automatisch, und zählte dabei die Atemzüge mit. Was würden sie mit ihm machen? Würde es wehtun? Oder, noch schlimmer, entwürdigend sein? Sie sollen mich aufhängen… ich will nicht knien, wo´s jeder sieht. Bitte… wenn ihr mich schon umbringt, dann wenigstens im Stehen…
Der Blick des Vogtes ruhte auf dem Angeklagten. Von Rechts wegen müsste ich ihn für seine aufrührerischen Reden in den Steinbruch schicken, dachte der Mann. Aber er scheint mir doch noch sehr jung. Jung genug, um noch Gnade walten zu lassen.
Im Rechtswesen existierte das Brauchtum, einem angeklagten Kind einen Apfel und ein Geldstück zur Wahl anzubieten. Wählte das Kind den saftigen Apfel, war es noch zu klein und würde kaum begriffen haben, was es falsch gemacht hatte. In diesem Fall durfte das Urteil milder ausfallen. Verstand es jedoch den Wert des Geldes, von dem man sich viele Äpfel kaufen konnte, war es voll straffähig und würde zu Recht von der gesamten Härte des Gesetzes getroffen.
Seine Menschenkenntnis riet dem Vogt, bei Enno-Kilian einen anderen Ansatz zu wählen. Hier stand ein zwar derzeit recht verängstigter kleiner Bursche vor ihm, doch schien er dem Erwachsenen durchaus in der Lage, mit treuherzigem Lächeln in den Apfel zu beißen und dabei die Münze klammheimlich in seinem Wams verschwinden zu lassen. Daher stellte der Vogt dem Kind statt der Apfelprobe eine Frage: „Deine Mutter schickt dich in den Wald Erdbeeren pflücken, aber es ist Winter. Ohne Erdbeeren lässt sie dich nicht wieder ins Haus. Was tust du?“
Alles mögliche fiel Enno dazu ein: Ins nächste Dorf zu laufen und um Arbeit zu bitten, zu betteln, falls es keine Arbeit gäbe. Den Pfarrer um Hilfe für die verwirrte Mutter zu bitten. Enno war weitsichtig genug, „Fischen und Vogelschlingen legen“ nicht laut auszusprechen, denn das war ja verboten. Doch was auch immer er anzubieten hatte, wurde vom Vogt abgeschmettert. Es gäbe keine Arbeit erklärte der Mann und niemand wolle dem Bettelkind etwas geben.
„Na, wenn das alles nicht geht, dann setze ich mich eben unter einen Baum und bete noch mal und warte auf den Tod!“ rief der Junge. „Was bleibt mir denn sonst noch?“
„Erdbeeren zu suchen.“
„Aber habt Ihr nicht gesagt, es ist grad Winter in Eurem Rätsel, Herr?“
„Ich habe dir auch gesagt, dass dir ein Befehl erteilt wurde.“ Der Mann seufzte. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, aber er würde den Knaben zu dessen eigenen Besten in den Steinbruch schicken müssen. Überlebte er die Knochenarbeit dort, würde er als besserer Mensch zurückkehren.
Geschichtsfreunde, die wissen wollen, wie es früher denn nun wirklich zugegangen wäre, recherchieren Schöffengericht und Rechtsfähigkeit der Leibeigenen (zum Handlungszeitraum meines Wissens schon wieder eingeschränkt)

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 16. Dez 2013, 23:07

„Hm, ich mach eigentlich nur ungern Gefangenentransporte“, murrte der Furhmann, der seit Jahr und Tag die Vorräte aus dem Dorf zum Steinbruch karrte. „Aber wenns wirklich nur so ein vorlauter Rotzlöffel ist, dann meinetwegen.“
Er zog Enno-Kilian auf den Kutschbock und schüttelte den Kopf, als die Männer des Vogtes das Kind dort angketteten. „Seh schon ein, dass der nicht fliehen soll, aber was, wenn das Räuberpack über uns kommt? Sollen die den Jungen dann erschlagen?“ murrte er. „Ich bleibe jedenfalls nicht sitzen und halte meine Haut für einen Verbrecherlümmel hin!“
„Räuber?“ Enno sah erschrocken auf. „Sind welche im Wald?“
Der Fuhrmann schüttelte belustigt den Kopf. „Na, was meinst du denn, wieso die Soldaten dich mir aufhalsen? Weil sie samt und sonders damit beschäftigt sind, dem Gesindel im Wald nachzustellen.“
Räuber im Wald! Angesichts der hinter und noch vor ihm liegenden Schrecken fühlte sich Enno bereit sehr geläutert. Wenn hier mit heiler Haut herauskommen sollte, wollte er nie wieder den Mund aufreißen. Allein schon aus Selbstschutz nicht!
Der Wagen setzte sich in Bewegung. Es ging einen Waldweg entlang, der zuerst nur unmerklich anstieg. Nur wenn man zurückschaute, wurde deutlich, welche Steigung die Ochsen bereits gemeistert hatten.
Enno musste lachen. Trotz des grimmigen Anlasses und der Kette um seine Fußknöchel war es schön, so zu fahren, die Welt aus dieser Perspektive zu sehen. Vom Heuwagen aus hatte in jedem Herbst das Land von oben gesehen, aber der war nie durch den Wald gefahren! Besonders jetzt im Frühling, wo die Krokusse und Märzenbecher ihre Köpfe durch den Schnee streckten, gab es viel zu schauen.
„Was gibt es zu lachen?“
„Über mich.“
Dem kurzen Wortwechsel folgte wieder langes Schweigen. Irgendwann begann es zu nieseln und bald hielten die blätterlosen Baumkronen das Wasser nicht mehr von den Reisenden ab. Der Fuhrmann zog seinen Wachsmantel um sich selbst und den Jungen. Unter diesem Zelt holte er kalte Eierpfannkuchen hervor, die er ebenfalls in beinahe gleich große Teile zerpflückte und sie mit seinem Passagier teilte. Enno konnte kaum etwas erkennen, doch die Pfannkuchen schmeckten, als hätte jemand vor dem Zusammenrollen Rübensirup draufgestrichen.
FLAPP! Und noch einmal: Flatsch-flapp!
Zwei Bolzen schlugen in den Mantel Fuhrmanns ein und rissen ihn mit ihren Widerhaken von seinem Körper. Der Wind trug den Mantel fort.
„Hooooooooo! Anhalten!“ rief jemand laut.
Enno-Kilian und der Fuhrmann sahen sich hektisch um. Zwei mit Ballästern bewaffnete Schützen saßen links und rechts des Wegs in Bäumen und am Boden näherte sich eine wild aussehende Bande dem Fuhrwerk. Balläster! Eine unritterliche Waffe, derer sich nur Räuber bedienten. Sie lauerten im Gebüsch und bliesen reisenden Kaufleuten das Lebenslicht aus. „Runter vom Wagen!“ befahl der Anführer der Bande.
Was blieb dem Fuhrmann übrig, als zu gehorchen?
„Dein Lehrling auch!“
„Ich kann nicht!“ rief Enno-Kilian, wobei er sicherheitshalber beide Hände hob.
Ein Schleuderstein flog haarscharf an seinem Ohr vorbei. Keine Kriegswaffe, dennoch tödlich, wenn er mit Wucht aus kurzer Entfernung abgeschossen wurde. Im erstem Impuls sprang Enno vom Kutschbock und hing nun ziemlich lächerlich mit den Beinen nach oben in seinen Ketten. Die Fingerspitzen des Jungen berührten den Waldboden.
Die Räuber lachten schallend! Einer von ihnen lief auf den Wagen zu, holte mit einer Axt aus und schlug den Kutschbock einfach entzwei. Eine Frau öffnete noch im Laufen eine lederne Umhängetasche, während sie dem Axtkämpfer hinterher rannte. „Wart, Bruno, ich kümmer mich schon drum…“
Mit Enno unbekannten Werkzeugen öffnete die Räuberbraut das Schloss.
Kaum stand der Gefangene wieder auf seinen Füßen, sah er sich nach dem Fuhrmann um. Der lag mit dem Gesicht nach unten am Boden und über ihm stand ein virschrötiger Kerl mit einem Knüppel, in er drei lange Nägel gsechlagen hatte… Tränen der Wut schossen Enno in die Augen.
Der Axtmann packte Enno und warf ihn der Frau mit den Einbrecherwerkzeugen in den Arm. „Willst du ihn haben?“ Enno fühlte sich sogleich wieder zurückgestoßen. „Die Beute wird erst am Ende verteilt!“ erinnerte die Frau ihren Kumpan. „Und ich lasse mich gewiss nicht von dir um meinen Anteil prellen! N neuer Küchenjunge kommt uns allen zugute, der kommt in den gemeinsamen Besitz!“
„Ich bin keinem sein Besitz!“ beschwerte sich Enno-Kilian.
„Doch, in den sauren Apfel musst du schon beißen, wenn du bei uns mitmachen willst“, lachte der Räuber. „Musst dich schon von ganz unten hocharbeiten.“
„Ich hab schon nicht dem Bachentaler gedient, wieso sollte ich es da mit Räubergesindel halten?“ schrie Enno wütend. Die Räuber waren ja genauso schlimm wie der Bachentaler. Den braven Fuhrmann, der so gut zu ihm gewesen war, hatten sie erschlagen!
„Haha, der gefällt mir!“ rief die Räuberbraut aus. Ihr Kumpan hingegen griff nach einem an seinem Gürtel hängenden Messer. „Die Ratte wird´ ich Respekt lehren!“ knurrte er.
Mit sanfter Gewalt drückte die Frau die Hand des Räubers von dessen Waffe fort. „Nein, lass, er ist unterhaltsam!“ „Was ich mir für ihn ausgedacht habe, ist ebenfalls unterhaltsam!“
Die beiden hätten sich wohl noch weiter so gestritten (weswegen Enno sie sogleich für Mann und Weib hielt), hätte nicht unvermittelt ein Pfeilhagel den Platz des Überfalls eingedeckt. Jene Räuber, die gerade den Wagen plünderten, hechteten zuerst darunter und wurden dann niedergestreckt, als sie zu fliehen versuchten. Die näher an den Bäumen stehenden schafften es, sich ins kahle Unterholz zurückzuziehen. Sie kannten den Wald bestens und würden bereits nach kurzer Zeit nicht mehr auffindbar sein.
„Wer sind denn die schon wieder?“ wimmerte Enno. Er lag mit dem Gesicht nach unten am Boden und schützte seinen Kopf mit den Armen. Wann war die Welt bloß so chaotisch und gefährlich geworden? Er wollte nur noch nach Hause, zu Erika und Stefan!

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 17. Dez 2013, 18:51

Irgendwann war es vorbei. Jemand zog Enno auf die Beine. Zu seinem größten Erstaunen erkannte das Kind seinen Fuhrmann! Enno sah, dass der Mann aus einer Platzwunde blutete und bleich um die Nase war, als müsse er sich jeden Moment übergeben, aber ansonsten wohlauf.
Um die beiden herum standen die Soldaten des Vogtes. Diese Männer strichen bereits seit Wochen durch den Wald. Zum Gerichtstag waren sie nicht in Bachental gewesen, daher erkannten sie den Verurteilten nicht.
„Was wollten die?“ fragte der Anführer der Soldaten. „Die Vorräte für den Steinbruch?“
„Das auch“, antwortete der Fuhrmann. Er deutete auf die Ketten, von denen die Räuber Enno befreit hatten. „Da, seht! Ich habe einen Sträfling für den Steinbruch transportiert, den haben sie befreit. Ist mit dem Gesocks zusammen in den Wald entkommen. Mein Neffe und ich glaubten, es sei aus mit uns!“
„Stimmt“, grinste der Soldat. „Ihr seid noch ganz bleich um die Nasen. Schafft ihr den Rest des Weges allein? Ich würde nur ungern meine Leute abstellen müssen, nur um euch beiden Mut einzuflößen.“
„Wird gehen, wird gehen.“

Es muss noch gesagt werden, dass die beiden den Weg zum Steinbruch dennoch nicht schafften. Oder jedenfalls nur einer von beiden. An einer Wegkreuzung lies der Fuhrmann seinen Passagier vom Wagen. Er gab ihm noch einen Brotbeutel und einen Wasserschlauch mit auf den Weg und gab seinen Ochsen die Peitsche. Was ihn dazu bewog? Von ein paar Münzen aus der Hand des Grafen über eine rührselige Anwandlung angesichts Ennos Weigerung, sich den Räubern anzuschließen bis hin zu einer Vision während seiner kurzen Ohnmacht war vieles vorstellbar ;)
Enno-Kilian brach sich einen Ast als Wanderstab und machte sich auf den Weg in die weite Welt. Wie oft hatte er davon geträumt, einfach davonzulaufen und sich der großen Stadt zu verdingen! Doch nun, da dieser Wunsch Realität geworden war, gefiel dem Jungen sein Schicksal nicht mehr so gut. Denn die Gefahren, denen sich ein Held in den Geschichten stellte, die waren in Wirklichkeit, naja, gefährlich eben. Sehnsüchtig dachte er an Stefan und Erika zurück, an Arnold und die Mädchen aus dem Dorf, die ihm mit jedem verstrichenen Jahr weniger dämlich erschienen waren. Mehr als einmal war der Junge versucht, dem Wagen hinterherzulaufen, seine Zeit im Steinbruch abzuleisten und in sein altes Leben zurückzukehren. Doch immer, wenn er sich umdrehte, stand der der Wald finster und drohend vor ihm, während in der anderen Richtung die Straße lockte.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 18. Dez 2013, 01:33

Seit dem Überfall waren vier Jahre vergangen. Enno-Kilian nannte sich kurz Enki, hatte so einiges von den deutschen Landen gesehen und einiges mehr über noch fernere Landstriche gehört. Er hatte mancherlei Beruf ausgeübt, aber nichts Richtiges gelernt, weil es ihn nie lange am selben Ort hielt. Bisweilen hatte Enki das Glück gehabt, einem Gelehrten als Laufbursche oder Küchenjunge dienen zu dürfen. Wenn er heimlich oder mit Billigung seines Herrn in dessen Schriften stöbern konnte, war er am glücklichsten. Natürlich war es vermessen, auch nur davon zu träumen, Lehrling eines dieser gebildeten Männer zu werden, doch war eben das der große Unterschied zwischen Moorungen und der weiten Welt: Hier draußen durfte man träumen.
Eines Tages verdingte sich Enki als Tagelöhner in einem Steinbruch wie dem nahe Bachental. Nach einem halben Tag war er davon überzeugt, es müsse noch einen Beruf namens „Stundenlöhner“ geben, denn einen ganzen Tag hielte das gewiss niemand aus!
Nachdem er die ersten Minuten der Mittagspause wie tot dagelegen hatte, kramte der Jüngling seine Flöte heraus. Er hatte sie aus den Knochen eines riesigen Bärenskelletts geschnitzt, das er eines Tages beim Erkunden einer Höhle entdeckt hatte. Das Instrument produzierte Töne, die selbst einem Volkslied einen exotischen Anklang verliehen.
Als sich die Männer am Ende der Pause erhoben, setzte Enki die Flöte ab und wollte sich ihnen wieder anschließen. Doch der Vorarbeiter drückte ihn zurück auf den Quader, auf dem er gesessen hatte. „Nee, lass ma, Kleener. Spiel ma liewer weider off deim maggabren Dingsda!“
Enki zog eine Grimasse. Sooo schwächlich war er nun auch wieder nicht, dass man ihn von der Arbeit ausschließen musste! Mit seinen geschickten Fingern hätte er gut beim Zuhauen der Gussformen für die nahe Eisenhütte helfen können. Aber er schien das Vertrauen des Vorarbeiters verspielt zu haben, als er heute Morgen den Hammer beinahe auf dessen Fuß verloren hatte. Als ob nicht jedem Anfänger Fehler unterliefen!
Wütend umkalmmerte seine Flöte. Er dachte nicht daran, zu spielen, sondern sah den Steinhauern beim Klopfen zu. Ka-klomp, ka-klomp! Immer im selben Rhythmus. Irgendwann begann der Beobachter, mit den Füßen zu wippen und zu pfeifen. Dem gleichmäßigen Schlagen der Hämmer wohnte eine Melodie inne…

Ich bin klein,
ich bin stark,
ich leb tief
drin im Berg.
Zipfelmütz´,
Hacke spitz,
ja mich Kerl
Nennt man Zwerg!
Wort reihte sich an Wort, mal sinnlos, mal albern, und dann wieder ernst und würdevoll. Enki sang beinahe die gesamte Schicht über und die Wasserträgerinnen kamen ebenso oft bei ihm vorbei wie bei den Hauern. Am Ende fühlte er sich nicht wesentlich weniger erschöpft.
„Na, ich geh dann mal…“
Verdutzt schaute ihn einer der anderen Tagelöhner an. „Und dein Lohn?“
„Wofür? Für den halben Tag Arbeit? Iwo! Ich kenne die Regel: Angebrochene Tage werden nicht bezahlt.“
Doch der Arbeiter lies keine Widerrede zu. Er nötigte den Jüngling, ihm zum Vormann zu folgen – und der zählte Enki eine Münze nach der anderen in die offene Hand. Nicht so viele wie den Hauern, aber genug für eine warme Mahlzeit, ein Dach über dem Kopf und eine Viertelmünze zum in den Schuh stecken für schlechte Tage. Es war gleichzeitig das Verrückteste und Schönste, das Enki in seinem Leben geschehen war. Menschen schenkten ihm das Wertvollste, was sie geben konnten: ihr Geld! Für seine Musik! Sie bezahlten ihn, als wäre das, wofür er in Bachental Schläge und, was viel schlimmer wog, Spott kassiert hatte, etwas wert. Ein dicker Kloß im Hals vereitelte dem Jugendlichen selbst den Dank.
„Na, nu griechsde dich awer ma widder ein! So viel isses nu ooch widder nich. Wo hasdn eichendlich das Lied her?“
„Ist von mir.“
„Haha! Schwindler, du! War awer scheen, ma was aus der weiden Weld gehert zu ham un nich immer nur dasselwe, was mor von heeme so gennd. Gannsde morchen widder machen!“
Enki wusste nicht, wie man Widder machte. Er hatte bisher geglaubt, die Tiere erledigten das von ganz alleine. Dennoch nickte er. Denn jetzt, so meinte er, würde ihm alles möglich sein!

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 28. Jan 2014, 04:56

So begab es sich, dass Enki von nun an als Musikant durch die Lande zog. Mal schloss er sich Gauklern an, dann wieder war er auf eigene Faust unterwegs und bisweilen hielt ihn ein Edelmann in seinem Gefolge, doch endeten derartige Dienstverhältnisse stets in Streit, Unfrieden und der einen oder anderen nächtlichen Flucht über eine Grenze, von denen das Land ja genügend besaß.

Eines Tags in seinem zwanzigsten oder fünfundzwanzigsten Jahr saß der Spielmann in einer Kneipe in Bamberg über einem Weizenbier und ließ seine Abenteuer Revue passieren. In seiner Zeit auf Erden hatte er mehr erlebt als Männer doppelten Alters, aber weit weniger erreicht als diese. Wie konnte er darüber unzufrieden sein, wo er doch genau das Leben lebte, das er sich gewünscht hatte?
Meine Grübelei muss am hiesigen Bier liegen, dachte Enki, als eine Frau im Gewand einer Händlerin durch die Tür trat. Anstatt angewidert auf der Schwelle des stickigen Raumes stehen zu bleiben, schritt sie forsch in den Raum hinein und stemmte die Arme in die Hüften. Der eine oder andere Landmann pfiff durch die Zähne. Hier stand eine, die anzupacken wusste. Als Bauersfrau würde sie das Gesinde wohl im Griff haben und an ihrer wohlgerundeten Figur war viel zum Liebhaben. Ihre Wangen waren rosig und die Augen tiefblau. Besonders einer der Männer, ein starker Kerl namens Ottmar Zellner, vermochte seinen Blick kaum von der Frau zu lösen.
„Wer möchte sich blanke Taler verdienen?“ fragte die Händlerin in die Runde. „Es ist eine Lieferung vom Fuhrwerk ins Lager zu schleppen: Zwanzig Kisten Pflaumensaft, zehn Kisten kalte Kürbissuppe und fünfzehn Kisten Räucherforelle.“
Mehrere Männer erhoben sich, doch Ottmar stand als erster neben der Fremden.
„Was für eine merkwürdige Bestellung“, kommentierte Enki die Liste.
Die Händlerin musterte ihn von oben bis unten, dann seufzte sie und meinte: „Wem sagst du das! Aber so hat´s mein Herr der Kaufmann Brodda befohlen, also musste ich über die Dörfer tingeln, bis ich alles beisammen hatte. Mit weniger als der gesamten Lieferung hätte er sich nicht zufrieden gegeben.“
Enki sagte die Bestellung noch einmal laut vor sich hin, in der Hoffnung, sie möge dadurch mehr Sinn ergeben. „Kalte Kürbissuppe… und dann in dieser Menge.“
„Und zu diesem Preis!“ schnaubte die Frau. „Finde mal einen Hof, der die gewünschten Waren nicht nur produziert, sondern auch in einem vernünftigen Zeitrahmen vorrätig hat und dann noch zu dem Preis zu verschleudern bereit ist, den ich nur bieten darf…“
Nun, da Enki näher an der Frau stand, sah er, dass eines ihrer Augen blutunterlaufen war. Offensichtlich hatte man Broddas Handelsagentin auf mindestens einem Hof nicht nur fortgeschickt, sondern regelrecht davongeprügelt.
Ottmar hob seine Hand, als wolle er die Wange der Händlerin tätscheln, doch er lies sie rasch wieder sinken. Was da nur in ihn gefahren war! Und hatte er nicht ohnehin Kisten schleppen wollen? Eiligst verlies er die Kneipe, um an die Arbeit zu gehen.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mi 29. Jan 2014, 00:44

Dank vieler zupackender Hände war die Umladearbeit rasch getan. Zusätzlich zu den Talern gab die Händlerin noch jedem, der beim Kistentragen geholfen hatte, ein Bier aus. Es hatte sich ergeben, dass auch der Spielmann zu den solcherart Bewirteten gehörte, obwohl er lediglich dabei gestanden und mehr oder weniger wertvolle Bemerkungen von sich gegeben hatte.
„Sie heißt Roswita“, flüsterte Enki dem neben ihm am Kneipentisch sitzenden Ottmar Zellner zu. „Das wolltest du doch wissen.“
Unter der Tischplatte drückte Ottmar die Hand des Jüngeren. „Danke!“

Die Gäste tranken. Enki sang „Es saßen die alten Germanen“, woraufhin die Gäste sich ermuntert fühlten, es den Altvorderen gleichzutun und Bier in sich hinein zu schütten. Als der Spielmann an die Stelle kam, an der die Germanen um ihre Frauen würfelten, schüttelte Ottmar den Kopf. „Nein, um Roswita würfeln mag ich nicht. Ich könnte verlieren und dann hätte ich alles verloren.“
Enki war versucht mitfühlend zu lachen, lies sich jedoch nicht aus dem Takt bringen. Ganz klar war dieser Ottmar Zellner verliebt. Von der wahren, reinen Liebe wusste Enki nichts, aber mit Verliebtheit kannte er sich aus.
Ottmar erhob sich. „Ich geh hin!“ rief er. „Ich sprech sie an! Jawoll, ich tus!“
„Nichts wirst du!“ entfuhr es Enki. Im letzten Augenblick zerrte er Ottmar an dessen Wams zurück auf dessen Holzstuhl. „Jedenfalls nicht in diesem Zustand, mein Freundchen!“
„Freundchen? Ah, ja, wir sind also Freunde! Wie schön!“
Enki seufzte. Für diesen einen Abend würde er wohl tatsächlich Ottmar Freund sein, damit der angetrunkene Ackersknecht sich nicht unsterblich blamierte. Wieso eigentlich, fragte sich der Spielmann? Was ging es ihn an, was andere taten? Bezahlt wurde er lediglichs fürs Singen und jedem einzelnen Bürger konnte er ohnehin nicht helfen. Wozu dann mit einem anfangen?
„Ich glaube“, sinnierte Enki über einem weiteren Schluck Bier. „Ich werde alt.“
Mit hochrotem Gesicht grinste Ottmar. „Das ist schön“, brachte er noch hervor, bevor er wegsackte.
„Na, wenigstens muss ich nicht länger auf ihn aufpassen“, meinte Enki und stürzte den Rest seines Biers hinunter.
Enkis Lied ist ein Anachronismus, es stammt wohl erst aus dem 19. Jahrhundert oder zumindest wurde es da erstmalig niedergeschrieben

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