Die Dorfchronik von Mühlingen

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Fr 26. Sep 2014, 00:30

Zwei Pferde und ein Reiter bewegten sich über die Landstraße, fort von Mühlingen, in Richtung eines unbekannten Ziels. Auf dem zweiten Pferd saß ebenfalls ein Mann, doch es hätte einigen Wohlwollens bedurft, diesen als „Reiter“ zu bezeichnen. Enno-Kilian von Bachental, genannt „Enki“, übte sich noch immer in den Reitkünsten. Er beherrschte sie wahrlich auf künstlerischem Niveau: der Praxis nicht angemessen nämlich…
Dass sein neben ihm reitende Halbbruder Amadeus ihm auch noch Vorhaltungen machte, erleichterte es Enki nicht unbedingt, sich auf die Kontrolle seines Reittiers zu konzentrieren.
„Du verhältst dich nicht, wie es einem Edelmann geziemt!“
Enki seufzte. Viel hätte es darauf zu erwidern gegeben, doch sein letztes Gespräch mit Saloniki hatte den Spielmann gelehrt, nicht gleich mit seinem Protest herauszuplatzen. Stattdessen erkundigte er sich, wie der Bruder seine Worte meine.
„Nun, nehmen wir nur einmal dein Haus in Mühlingen! Hast du es bauen lassen, um allen vor Augen zu halten, dass ihr Landesherr nun in ihrer Mitte residiert, als Symbol deiner Macht und angemessene Heimstatt für einen deines Standes? Oder hast du nicht viel eher murrend nachgegeben, nachdem die Leute über dein Wohnsituation zu wispern begannen? In der Gästekammer deines eigenen Schulzen hast du genächtigt!“
„Oh, ich habe noch in ganz anderer Leute Kammer genächtigt, sagt dir das mehr zu?“ erwiderte der Spielmann grinsend.
„In jener deiner Jägerin, ja, das dürfte ja nun mittlerweile im gesamten Reich bekannt sein.“
„Ach so, du meinst, ich müsse lernen, derlei besser zu verbergen, wie es unser Vater konnte?“
Amadeus antwortete lediglich mit einem Seufzer und es überraschte ihn kaum, dass Enki diesen sogleich nachäffte.
Die Brüder ritten eine Weile nebeneinander her, bevor der Mühlinger wieder das Wort an sich nahm: „Pass mal auf, Amadeus, es ist nicht leicht, ein verantwortungsvoller Herr zu sein, wenn mir unser Vater ständig dazwischen fährt. Baue einen Kanal! Eine Jagdhütte musst du auch noch anlegen! Und falls du das Treibballturnier nicht gewinnst, dann wird dein Mühlingen sein blaues Wunder erleben! Wem lasten die Leute es denn an, wenn ich Anweisungen dieser Art weitertrage? Doch wohl allein mir, der sich dabei doch vorgenommen hatte, ihnen ein besseres Leben nach dem Brand zu bieten! In Freidorf tuscheln sie deswegen schon, ich liese es an Disziplin und Weitsicht mangeln! Dort sieht man natürlich nur, was sich an Merkwürdigkeiten in meinem Dorf zuträgt, die Hintergründe kennen die Nachbarn nicht.“
„Freidorf?“ Amadeus blinzelte irritiert. „Ach so, wo dein, wie hieß er gleich noch mal, Saliare oder so, wohnt?“
„Saloniki!“ versetzte Enki scharf. „Ein…“ Hm… Saloniki befand sich nicht in der Nähe, also konnte der Spielmann es ruhig aussprechen: „Ein Vater als ich glaubte keinen mehr zu brauchen. Das ist übrigens der Moment, in dem man einen braucht, das kannst du mir glauben, kleiner Bruder.“ Als Amadeus keine Reaktion zeigte, fügte Enki hinzu: „Jedenfalls hält der mich jetzt für einen missratenen Bengel. Und meine Bauern wohl ebenso.“
Enki lag nicht ganz daneben mit seiner Befürchtung. In Mühlingen hieß es, der Herr Enki täte dem Dorf am Besten, wenn er sich ihm fernhielt. Er hatte für moderne Werkzeuge gesorgt, Handwerk angesiedelt, neue Anbautechniken eingeführt, schloss vorteilhafte Geschäfte und mit den Räubern hatte er auch aufgeräumt. Nur, wenn er sich unter die Dorfleute mischte, einen Spaten in die Hand nahm, um wer weiß welche Schrecken aus der Erde zu entlassen oder sich gab, als sei er noch der Spielmann, dann wussten die Mühlinger nicht, wie sie ihren Herrn zu nehmen hatten. In Enkis Dilemma erkannten sie tagtäglich die Bestätigung, dass man sich nicht über seinen gottgegebenen Stand erheben sollte. Es führte nur zu Leid, sowohl bei dem solcherart seiner Herkunft entrissenen wie auch in dessen Umfeld.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Fr 26. Sep 2014, 14:56

„Wohin reiten wir eigentlich?“ erkundigte sich Enki nach einer Weile. Amadeus sagte es ihm.
Der Spielmann blinzelte. „Eine Hütte zu bauen…“ wiederholte er. „Für ein Schwein.“
„Für den Schweineführer.“
„Aha. Aber bevor der einzieht, muss ich mein Dorf ansprechend dekorieren, damit sich das Schwein auch fein wohlfühlt.“
Amadeus nickte.
Enki zerrte am Zügel. Sein Pferd stoppte und er saß noch immer obendrauf. Soweit, sogut.
„Amadeus…“ Enki sprach leise, eindringlich, beinahe flüsternd. „Amadeus, die Wünsche deines Vaters nehmen jetzt Ausmaße an, die in keinem Verhältnis mehr zu meinem kleinen Flecken Land stehen. Das ist doch nicht das Gut der Prinzessin Soraya! Ich habe eine Mühle. Am Hang wachsen Weintrauben, die gleich vor Ort gekeltert werden. Wenn einmal kein Korn zu mahlen ist, betreibt die Mühle ein kleines Sägewerk, das wiederum eine Werkstatt beliefert, die einzig und allein dem Zweck dient, die Postkutschen der hiesigen Station instand zu halten. Für die Reisenden bauen wir ein wenig Gemüse an und der eine oder andere Hase oder Suppenhuhn landen wohl auch im Eintopf. Das ist Mühlingen, wie ich es kenne.“
„Bevor du begriffen hast, was alles aus dem Standort herauszuholen geht.“
„Mag sein“, gab Enki zu. „Aber einmal ist eine Grenze erreicht. Und zwar heute.“
„Möchtest du das Vater so sagen? Dich seinem direkten Willen widersetzen?“
Enki schüttelte den Kopf. „Möchten schon“, gestand er, wobei sich das alte Schmunzeln wieder in sein Gesicht schlich. „Werd´s aber nicht.“ Der Mann wendete sein Pferd. Vor etwa zwei Meilen hatten die Brüder eine Abzweigung passiert, die unter anderem nach Freidorf führte. Während sie nun aus der anderen Richtung auf diese Weggabelung zuritten, setzte Enki Amadeus auseinander, was dieser dem Grafen in diplomatischer Weise mitteilen sollte. Im Grunde lief seine Argumentation darauf hinaus, dass aufgeschoben nicht aufgehoben sei und eben alles seine Zeit dauere. Der jüngere Bruder hatte nichts dagegen einzuwenden, ihren gemeinsamen Vater in einer Sprache zu beschwichtigen, auf die sich die beiden besser verstanden als Enki, bedeutete dessen doch, dass aufgrund von Enkis Ausscheiden aus dem Wettbewerb um die väterliche Gunst die nächste Zeit lang Amadeus der Lieblingssohn sein würde.
An der Gabelung trennten sich die Brüder. Amadeus wollte sich weiter nach Trüffelschweinen samt einem kompletten Lebensraum für die Tiere umtun, Enki aber ritt in Richtung Freidorf. Nüchtern betrachtet hatte er nur die Wahl, vom wem von beiden er eine Standpauke kassieren wollte: Seinem Vater dem Grafen oder Saloniki. Aber nur einer dieser Männer war es in Enkis Augen auch wert, ihm zuzuhören.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Sa 27. Sep 2014, 16:24

Wider Erwarten erreichte der Reiter die Zeremonie noch rechtzeitig. Salonikis Tochter Annalena strahlte vor Glück an der Seite ihres Alexander. Wirkte die junge Frau zu Anfang noch recht bleich, was durch einen Kranz aus weißen Rosen und das kühle Blau des Brautkleides zusätzlich verstärkt wurde, nahmen ihre Wangen schon bald wieder Farbe an. Der Anblick der beiden jungen Menschen machte dem Spielmann bewusst, wie viel er eigentlich erlebt hatte, seit er sich selbst in diesem Alter befunden hatte. In Alexanders Alter… hatte er da nicht sein Glück in einem Steinbruch versucht? Die Arbeit wurde gut bezahlt, es erschien überaus vernünftig, diesen Weg einzuschlagen. Aber dann hatte es sich herausgestellt, dass der Jüngling die Musik nicht nur liebte, sondern ein gottgegebenes Talent dafür besaß. Von da an war es vorbei gewesen mit Vernunft und Planung. Enki schmunzelte in sich hinein. Annalenas und Alexanders Leben würde so völlig anders verlaufen als das seine, doch solange sie es nur ebenso glücklich machte, war ja alles im rechten Lot.

Der Festug verließ die Kapelle und zog in Freidorf ein und jedermann war begierig, sich ins Feiern zu stürzen. Wie juckte es Enki doch in den Fingern, eine Fiedel zu nehmen und aufzuspielen! Aber nein, Amadeus würde ihm in Stellvertretung des Vaters den Kopf abreißen und vermutlich würde Saloniki Enki dabei auch noch festhalten. „Wie wundervoll es doch ist, ein Freiherr zu sein“, murmelte der Geadelte. „Alles ist man, nur nicht mehr frei, zu tun und lassen, was man möchte…“
Jemand hatte die Worte aufgeschnappt. Diesem Jemand jedoch entlockten sie ein schallendes Lachen! „Kommt mal hier herüber, Bachentaler“, befahl eine tiefe, volle Männerstimme. Enki sah sich um und erblickte Hans von Bamberg, den man auch als „des Königs Bastard“ kannte. Hm… ging da nicht dieses Gerücht, der Bamberger werbe um die Dame Soraya? Dem sei, wie es sei, der Edelmann sagte Enki auf den Kopf zu, woran dieser dachte. „Nun stellt euch mal vor, der Kaiser selbst erschiene auf dieser Hochzeit“, forderte Hans den Spielmann auf. „Und sähe euch mit einer Fiedel in der Hand. Was würde er wohl von euch denken, Bachental?“
Enki senkte den Kopf. „Nichts Gutes.“
Hans nickte. „Richtig gesprochen. Und dabei doch so falsch gedacht.“ Hans´ Lachen nach diesen Worten klang nicht nur freundlich, er fügte auch noch einen guten Rat hinzu: „Ich will es euch verraten: Sohn eines Grafen hin oder her, ihr seid ein Freiherr. Ein ganz kleines Licht. In den Augen des Hohen Adels ist es völlig normal, dass ein solcher sich bäurisch benimmt. Genaugenommen erwartet man nichts anderes, da mögt ihr euch in euren Burgen – oder auch, haha, Hanseresidenzen - noch so viel darauf einbilden, über dem Bauernvolk zu stehen. Also nehmt schon dem Geiger dort seinen Bogen aus der Hand und führt ihm vor, wie man richtig damit umgeht! Pferde sind stolze Tiere, Freund Bachental. Wenn sie schon ihren Schweif für ein Instrument hergeben müssen, wollen sie, dass die Musik gut klingt.“
Mit diesen Worten ließ der Bamberger Enki stehen. Er habe noch eine Überraschung für das Brautpaar, erklärte er.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » So 28. Sep 2014, 20:24

In Freidorf bei Bameberg,
da wuchs in Pflänzchen aus der Erd,
sein Blütenkranz hell wie die Sonne,
die Menschen sahen es mit Wonne.

Geliebt und geleitet in seiner Jugend,
wuchs es heran zu Schönheit und Tugend.
Und wie´s nun wollt´ den Herrgot loben,
da richtet´s seinen Blick nach oben.

Der Himmel war so weit und leer,
ach, fragt´s sich, ob da wohl jemand wär?
Denn die Sonne brannte tagaus, tagein
Und das Blümchen fühlte sich allein.

Da trieb der Wind von München her
eine Wolke, der gefiel das Blümlein gar sehr!
So wiegte sich das Pflänzchen fortan
Im schützenden Schatten seines Galans.

Aus weiter Ferne
Sah es ihn so gerne.
Nachts besuchten sie einander im Traum,
tags war´s ihnen genug, einander zu schauen.


Kurz und gut, wären nicht die Eltern gewesen, so wäre es nie dazu gekommen, dass die Wolke ihr Wasser über das holde Pfänzchen ergoss, weshalb es heute nicht nur das junge Paar, sondern auch die Mütter und Väter zu loben galt.

Enki wunderte sich selbst, dass er nach diesem Lied nicht hochkannt aus Freidorf hinausflog. Vermutlich waren die meisten Gäste bereits zu angesäuselt, um mehr als die Melodie wahrzunehmen. Sie drehten sich im Tanz um den Spielmann, vom Knecht bis zum Schulzen, angetan in ihre besten Gewänder, wobei sie selbst einem Blumenmeer glichen. Der Spielmann wusste nicht zu sagen, wann er sich das letzte Mal so rundum zufrieden gefühlt hatte.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 29. Sep 2014, 01:27

Die Feier in Freidorf dauerte bis Morgen. Enki bedauerte die Viehknechte, die sich ohne Pause vom Fest zurück in die Pflicht stürzen mussten. Sie würden hernach noch erschöpfter ins Stroh fallen, als der angesäuselte Spielmann. Der Weg zur Gästekammer, die ihm in Salonikis Haus zugewiesen wurde, erschien Enki so lang, als müsse er ins ferne Reich des Priesterkönigs Johannes pilgern.
An diesem Morgen träumte den Mann von der Prinzessin, die Tochter des Gelehrten und Ritters Rüdigers von Regenstein, an deren Namen er sich nicht mehr erinnerte. Im Traum standen beide vor dem Traualtar. Enki trug sein altes Spielmannsgewand und die Prinzessin hielt anstelle eines Blumenstraußes einen Stapel Schriftrollen in ihren Armen. Voller Liebe und Hingabe betrachtete der Bräutigam seine Zukünftige.
NEEEEEEEEEEIIIIIIIIIN! schrie Enki. Er glaubte, dass man seinen Schrei in ganz Freidorf hören musste, doch als er erwachte, registrierte er, dass er in der realen Welt gar nicht geschrien, sondern lediglich ein wenig geächzt hatte.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 30. Sep 2014, 15:13

Am Tag nach der Hochzeit:

Auf der Landstraße zwischen Freidorf und Mühlingen hockte ein einsamer Reiter neben seinem Pferd. Das Tier hatte ein Hufeisen verloren und der Reiter betastete gerade das Hinterbein. „Ruhig, mein Alter! Na, zeig mal her, ob es dir auch gut geht…“
Die ganze Zeit über hatte der Mann das Rumpeln eines schweren Kastenwagens in seinem Rücken vernommen. Wie er nun so an der Straße hockte, konnte das Gefährt zu ihm aufschließen. Ein dunkler Schatten legte sich über den verhinderten Reitersmann und dann erschall respektloses, aber nicht unfreundliches Lachen.
„Na, hoher Herr, da hat euer Gaul wohl einen Achsbruch erlitten?“
„Was? Nein, Unsinn!“
„Vielleicht solltet Ihr ihn mal schmieren!“
„Wie bitte?“
Jemand reichte dem Reitersmann einen Trinkschlauch. „Hier“, forderte ihn eine Frauenstimme auf. „Nehmt einen Schluck, lehnt euch zurück und danach sieht die Welt schon besser aus.“ Der Schlauch wurde dem Reiter nun regelrecht in die Hand gedrückt und die Frau erklärte, ihre Gefährten würden sich um das Pferd kümmern, was immer ihm fehlen möge. Als Fahrende hätten sie Erfahrung mit Tieren. Der Reiter wandte sich um. „Und hinterher habe ich zwei Pferde hier stehen, hm?“
Die Frau schürzte die Lippen. „Ihr belei…“ begann sie, doch dann stockte sie mitten in ihrer Rede. „Enki?“ flüsterte sie ungläubig. „Ja, tatsächlich, du bist das! – Kommt mal alle her, das ist der Moorunger-Enki! Der Spielmann!“
Nun erkannte Enki sein Gegenüber als Katrina die Schlangenbeschwörerin und den Wagen als das bewegliche Domizil einer Gauklertruppe, mit der er vor vielen Jahren Bekanntschaft geschlossen hatte. Ebenfalls zur Truppe gehörte ein Akrobat namens Thorben der Starke. Dieser Hühne von Mann näherte sich dem kauernden Enki, wodurch er noch imposanter wirkte. In seinem Schlepptau befanden sich die restlichen Gaukler von der alten Eselstreiberin bis hin zum Jüngsten, konzentriert an seinem Daumen lutschenden Kleinkind.
„Nee, nee, diese Kleddasche!“ lachten die Männer und Frauen. „Hätten wir dich da drin doch glatt für einen Edelmann gehalten.“ „Ja, für nen Prinzen!“ „Aber mindestens!“ „Nein, er ist ein schneidiger Hauptmann, seht nur sein Schwert!“
Wer den einstigen Gefährten noch von früher kannte, suchte Enki zu umarmen und wer sich RICHTIG gut an ihn erinnerte, war wohl auch versucht, eine Kopfnuss anzubringen. So fand sich der Spielmann in kürzester Zeit unter einem Berg Menschen begraben.

„Das ist das Gewand eines Freiherrn“, murmelte Enki betreten, als er sich endlich aus den Umarmungen der Gaukler befreit hatte. Er zupfte an seinem Wams herum, in welches das den Bachentaler Keiler zeigende Wappen eingearbeitet war. Dabei wurde ein Sonnenstrahl von seinem Siegelring reflektiert und blendete Thorben, so dass dieser blinzeln musste.
„Nun wein´ mal nicht angesichts des Wiedersehens“, meinte Enki in dem Versuch, die für ihn überaus unbehagliche Situation zu entkrampfen. „Oder fließen die Tränen, weil du dich an den Taler erinnerst, den ich dir vorzeiten geliehen habe?“
Mit seinen flappsigen Worten erreichter Spielmann jedoch genau das Gegenteil. Katrina und Thorben wurden mit einem Mal sehr ernst und diese Ernsthaftigkeit, ja, Besorgnis, übertrug sich auf die restlichen Sippenmitglieder, selbst, wenn diese gar nicht verstanden, weshalb ihre Oberhäupter mit einem Mal so düster drein schauten.
„Enki!“ hauchte die Schlangenbeschwörerin. „Enki, was hast du dir bloß dabei gedacht!“
„Jau“, warf der starke Mann ein, wobei er sich an seinem Stoppelbart kratzte. „Ein Hase hier und da, das geht ja noch, aber nen Edelmann zu überfallen und ganz und gar nackich an der Landstraße zurückzulassen… nee, alter Freund, das geht zu weit, das ist kein Spaß mehr.“
„Aber nein“, begann Enki. Er hob beide Hände, in dem Versuch, seine alten Freunde zu beschwichtigen und zu erklären, wie denn nun tatsächlich er an seine Kleidung gekommen war. Doch die beiden ließen den Spielmann nicht zu Wort kommen. Zuerst packte Thorben Enkis Handgelenke, dann stülpte ihm Katrina einen Hafersack über den Kopf. Sodann spürte Enki, wie jemand an seinen Reitstiefeln zerrte und eine weitere Person den Schwertgürtel löste.
„Ümpf! Harümpf!“ vermochte er noch zu ächzen, doch Thorben übertönte den Protest: „Das ist nur zu deinem Besten!“
Enki wurde ins Innere des Wohnwagens geworfen, dann nahm die Truppe ihre Reise wieder auf.
„Dieser Hallodri weiß wohl nicht, welche Strafe darauf steht, sich als Adliger auszugeben“, hörte Enki Katrina schimpfen. „Ich hoffe nur, er hat die Sachen und das Pferd lediglich irgendwo gestohlen und nicht wirklich einen Edelmann überfallen!“
Sie wusste ja nicht, dass die einzigen, die gerade einen Adligen überfallen und ausgezogen hatten, sie selbst und ihre Freund waren…

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Mo 6. Okt 2014, 02:06

In Mühlingen sah man Enkis Ausbleiben ähnlich wie in Saloniki in Freidorf: Der Herr war und blieb eben ein Herumtreiber. Und überhaupt, wenn der Herr in Geschäften unterwegs war, so hatte es das Volk nichts anzugehen.
Ottmar und Roswitha leiteten die Geschicke des Dorfes aus ihrer langjährigen Erfahrung heraus, wenn gleich weniger tatkräftig als in ihren Jugendtagen. Immer öfter kam es vor, dass an Stelle des Schulzenpaares Enkis Diener „Katze“ die Anweisungen gab. Der junge Mann verfügte über eine seltene Gabe: er vermochte aufmerksam und geduldig zuzuhören. Wie Katze so zwischen dem Bauernhaus und den Feldern hin- und herpendelte, merkte er gar nicht, wieviel Wissen er dabei aufnahm. Im selben Maße, indem sich der einstige Dieb in einen Bauern verwandelte, riefen ihn die Mühlingen anstatt bei seinem Spitznamen mit „Katzmann“. So kam der Jüngling zu einem Nachnamen (seinen Vornamen kannte wohl weiterhin nur der Herrgott). Ottmar und Roswitha aber kamen auf ihre alten Tage zu einem Ziehsohn.
Doch obwohl das Leben auch ohne Enki weiterging und obgleich man sich in Mühlingen keine Sorgen um den Herrn machte, konnten doch seine Freunde nicht verleugnen, den adligen Spielmann zu vermissen.

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Di 7. Okt 2014, 20:30

„Die Gaukler kommen!“
Noch lange vor den Torwachen (einer traurigen Notwendigkeit in diesen Tagen) hatten es die Dorfkinder bemerkt. Die älteren scharten sich an der Straße und liefen neben dem bunten Wagen her, darauf hoffend, dass ihre Hütehunde sich unterdessen schon um die Schafe und Ziegen kümmern würden. Die jüngsten Kinder aber, die man den Geschwistern mit auf die Weide gegeben hatte, rannten bereits in einer großen Traube zurück ins Dorf, dabei immer wieder „Die Gaukler kommen, die Gaukler kommen!“ ausrufend.
„Na, wenn man euch so hört, klingt es eher nach einem Einfall der Hunnen“, meinte Roswitha schmunzelnd. Umringt von der Kinderschar tätschelte sie hier einen Kopf und zog dort einem allzu wildes Kind die Ohren lang. „Nun lauft mal schön zu euren Eltern und geht ihnen zur Hand, damit ein jeder heute eher mit seiner Arbeit fertig wird!“

Doch nicht nur die Mühlinger Dorfjugend war aus dem Häuschen. Auch Katrina die Schlangenbeschwörerin klatschte vor Begeisterung in die Hände, als sie der Ortschaft ansichtig wurde. Besonders die hanseatische Residenz des Dorfherren hatte es der Frau angetan. „Seht nur dieses schöne Haus!“ rief sie aus. „Das wird Enki gefallen!“
„Na, dann befreie ich den Schlawiner mal aus seinem Hafersack“, brummte Thorben. Es gefiel dem Mann ganz und gar nicht, wie seine Freundin stets diesen Enki im Mund führte. Zwar, als sie beide noch jünger gewesen waren, da hatten sie zu dem Spielmann aufgesehen und wollten so werden wie er. Aber nun waren der kleine Gauklerjunge Thorben und sein Mädchen erwachsen – würde Katrina nicht Seiten an Enki entdecken, die sie sonst nur an Thorben schätzte? Aufgrund dieser Befürchtungen zerrte Thorben den Sack unsafter als geplant von Enkis Kopf. Aus dem Besitz der Fahrenden suchte er Kleidung für den Spielmann zusammen: Die guten Beinkleider eines Gauklers von Enkis Größe, ein mehrfach geflicktes Hemd, seinen eigenen Ersatzgürtel, den Hut eines Eldermanns aus dem Kostümfundus sowie ein Paar Schbabelschuhe, die niemand aus der Truppe mehr passten. Am Ende der Ausstaffierung traf der Spruch „Bunt, Spielmann, soll dein Wams sein“ wieder auf Enki zu. „Fühlt sich gleich viel besser an“, gestand er Thorben.
„Und vor allem redlich!“ erwiderte dieser und ergänzte lachend: „Auch, wenn redlich und Spielmann wohl nicht gerade zusammenpassende Worte im Mund des Volkes sind.“

Kurz darauf saßen alle drei auf dem Kutschbock (wobei Thorben darauf achtete, den mittleren Platz einzunehmen). Immer näher kamen sie Mühlingen, immer deutlicher war die im Hansestil erbaute Residenz zu erkennen.
„Dieses Haus ist die beste Kulisse für „Die Braut von Westhafen“, die ich mir vorstellen kann“, musste nun auch Thorben gestehen. „Gleich sind wir im Ort, dann melden wir uns beim Freiherrn an und geben die erste Aufführung noch heute Abend!“
„Der Freiherr ist nicht zuhause“, erklärte Enki.
Thorben und Katrina starrten ihren Freund an. „Woher weißt du das?“ verlangte Katrina zu wissen, obgleich sie ahnte, die Antwort bereits zu kennen.
„Das ist doch wohl nicht derjenige, den du…“ begann Thorben. „Dessen Wams du… geraubt...?“
„Die Sachen, die ich trug, gehören dem Freiherrn von Mühlingen“, gab Enki wahrheitsgemäß zur Auskunft. Seine Freunde zuckten zusammen, doch es war bereits zu spät, einen anderen Weg einzuschlagen. Schon fuhr der Kastenwagen in der Kutschenstation am Dorfrand ein…

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Fr 10. Okt 2014, 20:25

Wenn das fahrende Volk in ein Dorf einfuhr, dann neigten die Bauersleute dazu, Wäsche von der Leine zu nehmen, heiratsfähige Töchter ins Haus zu holen und den Hühnerstall zu verriegeln. Doch wenn diese Vorsichtsmaßnahmen erst getroffen waren, so vermochte sich selbst der misstrauischste Ackersmann nicht der Faszination zu entziehen, die von dem bunten Haufen ausing. Neuigkeiten aus der großen weiten Welt brachten die Gaukler mit und oftmals führten sie exotische Tiere oder gar Menschen fremdartiger Schläge mit sich.
Doch diesmal, ja, diesmal schienen die Rollen vertauscht. Wie staunten die Fahrenden, als sie ihren Wagen verlassen hatten und durch Mühlingen schlenderten! Was war das nur für ein Ort? Aus einer Werkstatt, wie man sie sonst nur in den großen Städten sah, hörte man es knatterten und rumpeln. Dicke rote Äpfel wuchsen an Bäumen, die sonst nur in Klostergärten standen. Fette Karpfen schienen mit den Flossen zu winken. Was waren das für merkwürdige Schafe mit langen, verdrehten Hörnern? Da suhlten sich doch nicht etwa tatsächlich zahme Wildschweine in einem Gatter?
So mancher der Artisten kam sich nach dem ersten Rundgang durch den Ort vor, als sei er in eines der Bühnenspiele geraten. Auf diesen Schock benötigte die Truppe zuersteinmal ein Bier! Das genehmigten sich die Männer und Frauen dann auch, wobei ein jeder lauthals verkündete, was er an diesem Tag gesehen hatte.
Ottmar und Roswitha standen schmunzelnd daneben, bereit, jede aufkommende Frage zu beantworten. „Wenn man eine Weile hier lebt“, gestand Roswitha den Fremden, „fällt einem gar nimmer auf, wie merkwürdig das alles ist.“

Gast

Re: Die Dorfchronik von Mühlingen

Beitrag von Gast » Do 30. Okt 2014, 14:48

Niedergeschlagen versammelten sich die Gaukler am frühen Abend bei ihren Wagen. Das Dorf kam allmählich zur Ruhe, die allerletzten Handgriffe wurden getätigt – kurzum, nun wäre es an der Zeit für die Fahrenden, ihre Gastgeber zu unterhalten. Doch wie sollten sie das bewerkstelligen? Mit einer Geschichte aus fernen Landen ganz sicher nicht, war doch der Ort selbst exotischer als jedes ferne Land! Dann lieber althergebrachtes Gaukelspiel wie die tanzenden Schlangen, die lebendige Pyramide und die anzügliche Ballade über den Pfaffen und die Beichterin. Oder war das nicht noch langweiliger?
Wie die Schausteller noch unschlüssig hin und her diskutierten, streckte Enki seinen Kopf aus dem Wagen, in dem zu bleiben ihm die Freunde geraten hatten. Der Spielmann trug bereits das Kostüm des Enterhaken-Alf, des üblen Seeräuberhauptmannes aus dem Bühnenstück.
„Das kannst du gleich wieder ausziehen“, brummte Thorben.
„Aber wenn ich das tue“, versetzte Enki grinsend, „wer entführt dann die vernachlässigte Gemahlin des Eldermanns von Westhafen? Denn wenn es niemand tut, begreift der Kerl nicht, wie sehr er sein Weib liebt und wird weiterhin nur seine Bilanzen im Kopf haben.“ Der Spielmann fasste Thorben bei der Schulter. „Hör mal, ich weiß, was euch allen durch den Kopf geht: Wie könnten die Eheprobleme des Eldermanns mit den Wundern Mühlingens mithalten! Aber das sind die Dinge, die die Menschen hier bewegen, die sie sehen wollen! Das fünfbeinige Ungeheuer aus dem Morgenland mag einen Tag lang interessant sein. Solange stehen die Münder offen. Aber der Eldermann und seine Braut, zu denen können sich die Leute in Beziehung setzen. Über das wer-mit-wem zerfetzen sie sich die Mäuler von Sonnenauf- bis –untergang.“
Thorben sah seinen alten Freund nicht an, während er „Woher willst du das wissen?“ murrte.
„Nun, erstens sehe ich es gerade in dir gespiegelt – du fürchtest, ich könnte dir Katrinas Gunst wegnehmen und all dein Tun und Reden wird von dieser Angst überschattet. Zwotens bin ich eine etwas sesshaftere Natur, die ihre Mühlinger täglich beobachtet und daher kennt.“
„Sesshaft“ und „Enki“ im selben Satz zu hören, vermochte der arme Thorben nicht sofort zu verarbeiten. Er leistete daher keinen Widerstand, als der Spielmann ihn hinter sich her auf die leere Bühne zog, um das Stück anzukündigen. Zwar, die Kulissen aufzubauen, hatten die geknickten Gaukler bisher versäumt, doch Enki trug rasch eine Ballade über das Meer vor, was den Männern und Frauen Zeit verschaffte, die Dekoration an Ort und Stelle zu räumen.
Das Spiel konnte beginnen!

Antworten